»Lass deine Augen offen sein,
Geschlossen deinen Mund
Und wandre still, so werden
Dir geheime Dinge kund.«
Die Zugfahrt von Langenhagen bis Walsrode dauerte nur eine knappe Stunde. Sören versuchte zu lesen, »Homo Faber« von Max Frisch – der Roman war gerade im Deutschunterricht dran. Doch er konnte sich nicht darauf konzentrieren und legte das aufgeklappte Buch daher mit dem Buchrücken nach oben auf seine Reisetasche.
Er starrte aus dem Zugfenster. Zwischen Mellendorf und Berkhof hockten an einem Fischteich Angler mit Gummistiefeln und Pudelmützen; Wälder und Wiesen zogen vorüber, Backsteinhäuser, die in der Sonne leuchteten, Fabrikhallen, die offenbar schon lange leer standen. Als der Zug zwischen Schwarmstedt und Hademstorf über die Eisenbahnbrücke ratterte, ließ Sören den Blick über die Allermarsch schweifen. Kühe und Pferde weideten auf den Marschwiesen. Doch die Bilder glitten vorbei wie die Bilder eines stummgeschalteten Fernsehapparates. In Gedanken war er schon zu Besuch in Walsrode. Was wollte er eigentlich bei seiner Tante, die er noch nie gesehen hatte? Was wollte diese Sabine von ihm? Würde er seinen Vater treffen?
Vater. Er hatte plötzlich einen richtigen Vater. Bei allen Problemen stimmte ihn der Gedanke glücklich. Doch die Vorfreude mischte sich mit Angst. Was, wenn sein Vater wirklich dieses Mädchen umgebracht hatte? Er wischte den Gedanken sofort wieder beiseite, schämte sich seiner Zweifel und malte sich aus, wie sein Vater unter den ungerechtfertigten Vorwürfen gelitten haben musste. Jahrelang als Mörder dazustehen – verachtet, verurteilt, weggesperrt. Die Vorstellung lastete schwer auf ihm, und der Zorn, dass seine Mutter ihn so schamlos betrogen hatte, wallte wieder in ihm auf. Wo würde das alles hinführen?
Anfangs war der kleine Zug mit den drei Waggons fast voll besetzt gewesen. Bis Schwarmstedt hatte er sich geleert. Sören stellte fest, dass er der einzige Passagier im Abteil war. Er kam sich vor wie in einem Geisterzug.
Um die düstere Stimmung zu verscheuchen, stöpselte er sich seinen MP3-Spieler ins Ohr, packte das Gerät aber gleich wieder zusammen. Die hämmernden Raps gingen ihm auf die Nerven. Außerdem musste der Zug jetzt auch schon in wenigen Minuten in Walsrode eintreffen. Er packte »Homo Faber« in seine Reisetasche, zog sich die dünne Windjacke über. Fast mechanisch fingerte er sein Handy aus der Tasche, um zu sehen, ob eine neue SMS eingegangen war. Tatsächlich, es blinkte. »Wann kommst du wieder zum Training?«, stand da. »Wir brauchen dich, Markus.« Er wollte die SMS gerade beantworten, da fuhr der Zug auf dem Bahnhof Walsrode ein.
Sören entdeckte die wartende Frau auf dem Bahnsteig sofort. Sie hatte schulterlange graue Haare, trug eine schwarzrandige Brille und einen beigefarbenen Blazer über einer blauen Jeans und erinnerte ihn mit ihren dunklen, buschigen Augenbrauen und dem leicht südländischen Einschlag irgendwie an die Krimiautorin Donna Leon. Sie kam lächelnd auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. »Hallo Sören, schön, dass du da bist.«
»Hallo.«
Er fühlte sich überrumpelt, empfand sogar einen gewissen Widerwillen gegen diese wildfremde Frau, die ihn drückte, als wäre sie eine alte Bekannte. Aber er wagte es nicht, die vertrauliche Geste zurückzuweisen. Wozu auch?
»Ich würde mich freuen, wenn du Sabine zu mir sagen würdest. Bitte nicht ›Tante Sabine‹.«
»Okay.«
»Wie war die Fahrt?«
»Gut, schöne Landschaft.«
»Bei dem tollen Wetter ist es natürlich besonders schön, vielleicht können wir ja nachher noch mal einen Spaziergang machen.«
»Okay.«
Sören ließ sich von seiner Tante zu ihrem blauen Peugeot schleusen. Sie legte ihm den Arm um die Schulter, sodass er ihr Parfüm riechen konnte. Es kam ihm merkwürdig vor, dass diese Frau, die er noch nie gesehen hatte, ihn wie einen alten Freund behandelte. Doch er ließ es geschehen, war dankbar, keine Entscheidungen treffen zu müssen, genoss die Wärme und Herzlichkeit, die ihm diese elegante Frau entgegenbrachte, sogar ein wenig. Gern hätte er Fragen gestellt, zumindest etwas Geistreiches gesagt. Aber dazu war er viel zu aufgeregt. Sein Pulsschlag beschleunigte sich noch, als Sabine ihm ankündigte, dass sein Vater ihn in ihrem Haus erwarte. »Er wäre auch gern mit zum Bahnhof gekommen. Aber er hatte Angst, dass ihn da einer erkennt … . Na ja, kannst dir schon denken …«
Sabine fuhr mit ihm über die Moorstraße quer durch die kleine Innenstadt Walsrodes in Richtung Eckernworth. Neben diesem Stadtwald verlief die Oskar-Wolff-Straße, wo sich das rot geklinkerte Einfamilienhaus befand, das Sabine Mahnke von ihren Eltern geerbt hatte. Sörens Großvater, der in Walsrode Volksschullehrer gewesen war, war schon lange tot. Seine Großmutter hatte dagegen noch miterlebt, wie ihr Sohn als Mörder ins Gefängnis gesteckt worden war. Sie war erst vor drei Jahren gestorben – an Darmkrebs. Seither bewohnte Sabine Mahnke das Backsteinhaus mit dem großen Garten allein.
»Da wären wir.«
Sören war wie betäubt, als Sabine vor ihrer Garage parkte. Kaum war er ausgestiegen, sah er auch schon den Mann, der aus der Haustür trat – den gleichen Typen, den er zuletzt auf dem Sportplatz gesehen hatte. Der hagere Mann mit den grauen Haaren und wachen Augen ging schweigend auf Sören zu, nahm ihn in die Arme und drückte ihn. Drückte ihn fest, ganz fest. Schließlich ließ Mahnke seinen Sohn leicht beschämt aus der Umklammerung frei.
»Entschuldige, dass ich dich so überfalle, Sören. Herzlich willkommen, schön, dass du da bist.«
»Hallo.«
Das Wort »Papa« lag ihm auf der Zunge. Doch er brachte es nicht über die Lippen. Bei all der Nähe, die hier plötzlich aufkam, war ihm dieser Mann, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, immer noch fremd.
Im Wintergarten war der Kaffeetisch gedeckt. Zerbrechlich dünne Tassen und Teller aus feinem Porzellan mit blauen Blumenornamenten erwarteten die Kaffeegesellschaft, Meißener Porzellan. Fast schienen Sören diese Gedecke, die Vase mit den Astern und die weiße Damastdecke ein wenig zu festlich für die Zusammenkunft. Aber das war nur ein flüchtiger Gedanke. Kaum hatte er Platz genommen, servierte Sabine auch schon ihren Käsekuchen. Ohne zu fragen, legte sie ihm ein großes Stück auf.
»Selbst gebacken, ich hoffe, er schmeckt dir.«
»Wenn er so gut schmeckt, wie er aussieht, bestimmt.«
Höflichkeitsfloskeln. Sören empfand die Atmosphäre als ziemlich steif in dieser schicken, aufgeräumten Wohnung mit den glänzenden Holzdielen, dem Kamin mit Stuckaufsatz, der Ledergarnitur im Wohnzimmer und den wahrscheinlich kostbaren Gemälden im Wintergarten. Die vielen großen Fenster vermittelten das Gefühl, in dem dahinterliegenden Garten zu sitzen, in dem Astern, Dahlien und Rosen in verschiedenen Farben blühten; Schilfohr umrahmte einen kleinen Teich mit Seerosen.
Sabine folgte Sörens Blick. »Wir hätten uns eigentlich auch nach draußen setzen können, bei dem schönen Wetter.«
»Schon okay, wir können ja nachher noch einen Spaziergang oder so machen, wie du gesagt hast«, erwiderte Sören.
»Auf jeden Fall. Wir gehen durch die Eckernworth, ist gleich nebenan, wunderschön, vor allem jetzt im Spätsommer.«
Dann wandte Mathias Mahnke sich wieder seinem Sohn zu: »Hättest du nicht heute Fußballtraining gehabt?«
»Eigentlich schon, aber ich hab abgesagt – auch das Spiel am Sonntag.«
»Da sind deine Mannschaftskameraden wahrscheinlich ziemlich traurig.« Mit einem Blick auf seine Schwester fügte Mahnke an: »Sören ist nämlich