In meinem Facebook-Feed hagelte es Proteste, Empörung und Schimpftiraden. Am liebsten hätte ich eingestimmt und in jener Woche meine Stimme für Gewaltlosigkeit erhoben, aber als ich im Radio hörte, der Bruder von George Zimmerman habe gesagt, Trayvon Martin sei seiner Meinung nach überhaupt nicht unbewaffnet gewesen, Martins Waffe sei ja der Bürgersteig gewesen, mit dem er George die Nase gebrochen habe – nun, als ich das hörte, war meine erste Reaktion nicht Gewaltlosigkeit, sondern ein überwältigender Impuls, mir den Mann durchs Radio hindurch zu schnappen und ihn mit einem Handkantenschlag gegen den Kehlkopf flachzulegen.
Dazu kam, dass ich gerade in dieser Woche Dankbarkeit darüber empfunden hatte, dass ein Bundesbeamter im Justizvollzug jede Woche, wenn er den Gottesdienst in der Gemeinde meiner Mutter besuchte, eine Waffe unter seiner Kleidung verborgen trug. Eigentlich ein Wahnsinn. Normalerweise würde ich über so etwas eine empörte Statusmeldung auf Facebook posten, damit all die Liberalen da draußen, die so denken wie ich, auf „Gefällt mir“ klicken können. Nur dass in diesem Fall der betreffende Justizvollzugsbeamte a) mein Bruder war und b) diese Waffe bei sich trug, um seine (meine) Familie, seine (meine) Mutter vor einer Verrückten zu beschützen, die sie umbringen wollte. Als ich hörte, dass mein Bruder bewaffnet war, um meine eigene Mutter zu beschützen, war ich darüber nicht aufgebracht, wie es sich für eine gute, für schärfere Waffengesetze eintretende Pastorin gehört … ich war erleichtert. Und was soll ich jetzt auf Facebook posten? Was fange ich damit an?
Außerdem musste ich mich damit auseinandersetzen, dass mir meine eigene antirassistische Empörung im Hals stecken blieb, da ich etwas wusste, was niemand sonst wissen konnte, wenn ich es nicht laut aussprach: All meiner liberalen politischen Einstellung zum Trotz ist mir, wenn in meiner Nachbarschaft eine Gruppe junger schwarzer Männer an mir vorbeigeht, instinktiv mulmiger zumute, als es der Fall wäre, wenn diese Männer weiß wären. Mir ist das selbst zuwider, aber wenn ich behaupten würde, in mir stecke überhaupt kein Rest von Rassismus mehr, würde ich lügen. Dieser Rassismus ist mir vierundvierzig Jahre lang durch die Medien und durch die Kultur um mich her eingetrichtert worden, und ich weiß einfach nicht, wie ich ihm entrinnen soll. Auch wenn ich einen Anti-Rassismus-Aufkleber auf dem Auto habe.
Als ich am Morgen nach dem George-Zimmerman-Urteil überlegte, was ich meiner Gemeinde darüber sagen sollte, drängte es mich, meine Stimme für Gewaltlosigkeit, Antirassismus und schärfere Waffengesetze zu erheben, wie ich es für meine Pflicht hielt (oder wie ich es die Leute bei Twitter fordern sah: „Wenn dein Pastor diese Woche nicht über Waffengesetze und Rassismus predigt, such dir eine neue Gemeinde“) – aber ich konnte nur in der Küche stehen und heulen. Ich heulte über meine eigene Inkonsequenz. Über Andrea Gutiérrez, Mitglied meiner Gemeinde und Mutter von zwei Kindern, die mir sagte, Mütter von Kindern mit brauner und schwarzer Haut hätten jetzt das Gefühl, ihre Kinder könnten auf den Vorstadtstraßen ganz legal als Zielscheiben für Schießübungen benutzt werden. Über ein gespaltenes Land, in dem zwei Seiten sich gegenseitig mit erbittertem Hass bekämpften. Darüber, dass ich insgeheim die Dinge, die ich kritisiere, selbst noch nicht überwunden habe. Über die Morddrohungen gegen meine Familie und die Morddrohungen gegen die Familie Zimmerman. Über Tracy Martin und Sybrina Fulton, deren Kind erschossen wurde und denen man nun sagte, das sei mehr seine eigene Schuld als die Schuld des Schützen gewesen.
Wenige Augenblicke, nachdem ich von dem Freispruch gehört hatte, ging ich mit meinem Hund nach draußen und rief Duffy an, eine ausgesprochen besonnene Frau aus meiner Gemeinde. „Ich bin wirklich total durcheinander über die ganze Geschichte“, sagte ich und schilderte ihr dann all die Gründe, wieso ich mich, obwohl ich in diesen Fragen ganz klare Überzeugungen habe, nicht hinstellen und glaubwürdig meinen Standpunkt gegen Gewalt und Rassismus vertreten konnte – nicht, weil ich nicht mehr daran glaubte, dass man dagegen Stellung beziehen muss (das tue ich), sondern weil in meinem eigenen Leben und in meinem eigenen Herzen zu viel Zweideutigkeit steckt. In mir gibt es sowohl Gewalt als auch Gewaltlosigkeit, und doch glaube ich nur an eines davon. Duffy meinte, vielleicht ging es ja anderen genauso. Vielleicht erwarten die Leute von ihrer Pastorin ja nicht die moralische Entrüstung und die Schimpftiraden, die sie ohnehin schon auf Facebook sehen. Vielleicht könne ich ihnen ja gerade dadurch helfen, dass ich mich zu meiner niederschmetternden Inkonsequenz bekenne, damit sie sich auch zu ihrer bekennen können.
Bei dem Gedanken lief es mir kalt den Rücken hinunter, aber ich wusste, dass sie recht hatte.
In der Kirche wird man als Pastorin oder „geistliche Leiterin“ oft als Vorbild für ein „gottgefälliges Leben“ gesehen. Eine Pastorin oder ein Pastor soll jemand sein, der diese Sache mit dem Christentum aus dem Effeff beherrscht – jemand, zu dem andere aufblicken können wie zu einem Paradebeispiel der Rechtschaffenheit. Aber so verlockend es sich manchmal anfühlen kann, diejenige zu sein, die die beste Christin ist, die am engsten „Jesus nachfolgt“, diesen Schuh konnte ich mir einfach noch nie anziehen, und das ist es auch nicht, was meine Gemeindeglieder von mir brauchen. Ich renne nicht Jesus nach. Jesus ist mir auf den Fersen. Ja, ich bin eine Leiterin, aber ich leite die Leute doch nur hinaus auf die Straße, wo sie dann von dem rasenden Bus der Beichte und Absolution, der Sünden und der Heiligung, des Todes und der Auferstehung erfasst werden – von dem Evangelium Jesu Christi. Ich bin eine Leiterin, aber nur dadurch, dass ich sage: „Ach, scheiß drauf. Ich gehe als Erste.“
Am nächsten Tag stand ich im rötlichen Abendlicht in dem Gemeindesaal, in dem sich das House for All Sinners and Saints versammelt, und gestand all dies meiner Gemeinde. Ich sagte ihnen, dass ich aus einer Million Gründen gerne eine prophetische Stimme für Veränderung wäre, aber jedes Mal, wenn ich es versuche, steht mir meine eigene Verkorkstheit dabei im Weg. Ich sagte ihnen, dass ich nicht als Vorbild für irgendetwas tauge, außer dafür, auf Jesus angewiesen zu sein.
Als ich zum ersten Mal eingeladen wurde, auf dem Festival of Homiletics, einer landesweiten Predigerkonferenz, einen Vortrag übers Predigen zu halten, sollte ich darüber sprechen, wie im House for All Sinners and Saints gepredigt wird. Ich wusste nicht recht, was ich dazu sagen sollte. Also fragte ich meine Gemeinde. Ihre Antworten waren voller Leidenschaft, aber keine davon hatte damit zu tun, wie toll sie es fänden, dass ihre Predigerin so ein großartiges Vorbild für sie sei. Nicht einer sagte, er sei begeistert von all den praktischen Lebenstipps in den Predigten, wie man an seiner Ehe arbeiten und sie stärken könne. Dagegen sagten fast alle, sie fänden es schön, dass ihre Predigerin ganz offensichtlich genau die Worte verkündigt, die sie selbst braucht, und alle anderen einfach dabei mithören lässt.
Mein Freund Tullian drückt es so aus: „Die am besten qualifizierten Leute, um das Evangelium zu verkündigen, sind diejenigen, die wirklich wissen, wie unqualifiziert sie dafür sind, das Evangelium zu verkündigen.“
Jesus hat nie seinen Blick durch den Raum schweifen lassen, um das beste Vorbild für einen heiligen Lebenswandel zu finden und diese Person dann auszusenden, damit sie anderen von ihm erzählt. Er hat immer die Strauchler und die Sünder geschickt. Das tröstet mich.
Walspucke im Superdome
Es geschah das Wort des Herrn zu Jona, dem Sohn Amittais: Mache dich auf und geh in die große Stadt Ninive und predige wider sie; denn ihre Bosheit ist vor mich gekommen. Aber Jona machte sich auf und wollte vor dem Herrn nach Tarsis fliehen und kam hinab nach Jafo. Und als er ein Schiff fand, das nach Tarsis fahren wollte, gab er Fährgeld und trat hinein, um mit ihnen nach Tarsis zu fahren und dem Herrn aus den Augen zu kommen.
– Jona 1,1-3
Als die lutherische Konfession, zu der wir gehören, mich einlud, auf ihrem Nationalen Jugendtreffen 2012 in New Orleans vor 35 000 Jugendlichen und Erwachsenen zu sprechen, sagte ich nein danke. Ich habe Jugendliche noch nie als mein Publikum gesehen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass Jugendliche mich nicht cool finden. Leute im mittleren