„Na“, fragte Jesus, „zufrieden?“
„Besser als stehen!“, beharrte Gabriel.
„Die Krippe ist zu klein für dich. Das sieht albern aus!“, gluckste einer der Weisen.
„Merkst du, wie dir das Stroh in den Rücken piekst?“, fragte Jesus, „und die Kirchendecke ist auch nicht der Kracher, oder?“
Gabriel starrte die weiße Decke an und sagte nichts.
„Andere Kirchen haben wenigstens Deckenmalereien. Aber hier ist nichts. Nichts als schmuddeliges Weiß“, sagte Jesus lächelnd.
„Mir egal!“, fauchte Gabriel. „Lieber die Decke als die verpennten Gesichter am Sonntagmorgen.“
„Also das ist doch …“, ereiferte sich Maria.
„Nee, nee, lass mal“, meinte Joseph, „da hat der Gabriel nicht ganz unrecht.“
„Ja“, mischte sich jetzt der Hirte ein, „habt ihr den Typen bemerkt, der letzten Sonntag eingeschlafen ist? Während der Predigt? Der hat voll laut geschnarcht.“
„Ja, den hab ich auch gehört“, sagte das Jesuskind, „aber nicht gesehen. Denn … ich sehe Tag und Nacht nur die Decke!“
„Das sagtest du bereits“, knurrte Gabriel. Er zog die Beine an und wälzte sich von rechts nach links und wieder zurück. Schließlich seufzte er schwer und setzte sich auf.
„Ach, schon keine Lust mehr zu liegen?“, höhnte das hölzerne Baby.
Maria stöhnte genervt.
„Wenn wir uns benehmen würden wie unsere historischen Vorbilder, wären wir viel freundlicher miteinander“, murmelte sie und schickte sich an, das Kirchenschiff zu durchqueren.
„Wenn du dich benehmen würdest wie die echte Maria, müsstest du gar nicht pausenlos knien. Die hat gelegen und geschlafen, nachdem sie Jesus geboren hat. Darauf verwette ich meine Laterne!“, sagte Joseph.
„Apropos Joseph, du bist heute dran mit Wache schieben“, meldete sich Jesus wieder zu Wort.
„Das ist auch so was“, meckerte Gabriel gleich wieder los. „Wir müssen alle Wache schieben, aber du nicht. Das nervt mich.“
„Nun mach aber mal´n Punkt!“, rief Maria. „Er kann nicht stehen, nicht laufen und ist gerade mal 60 Zentimeter groß. Wie soll er da Wache schieben! Er reicht ja noch nicht mal ans Fensterbrett heran.“
„Dann soll er mal nicht so ’ne große Klappe haben“, sagte Gabriel.
Joseph postierte sich am Fenster und sah über den Kirchhof hinüber zum Haus des Küsters.
„Ist ja schon ’ne Weile her, dass der Küster hier nachts um die Kirche geschlichen ist. Hätte uns fast erwischt, damals.“
„Stell dir mal vor, er hätte uns erwischt …“, sagte Maria und blätterte halbherzig in einem Traktat über den Stern von Bethlehem.
„Och, dann wären wir jetzt vielleicht mit dem Küster befreundet und könnten die Kirche auch mal verlassen. Mal rübergehen zu ihm, bisschen fernsehen oder so“, meinte Joseph.
„Quatsch“, sagte Gabriel, „wenn der Herr Küster uns erwischt hätte, hätte er sicher geglaubt, er sei wahnsinnig. Dann würde er bestimmt nicht mehr hier arbeiten.“ Alle schwiegen, und weil Gabriel selten erlebte, dass alle ihm zuhörten, fuhr er schnell fort: „So sind die Menschen. Alles, was sie nicht erklären können, finden sie unheimlich. Sie sagen sich, das kann nicht sein, oder das kann es ja gar nicht geben …“
Währenddessen trat, etwas früher als gewöhnlich, der Herr Küster aus seinem Häuschen. Tief sog er die kalte Morgenluft ein und machte sich dann auf den Weg zur Kirche.
„ … die Menschen haben die Wunder direkt vor der Nase. Aber sie wollen sie nicht sehen“, dozierte Gabriel fröhlich weiter, „sie sehen Sonnenaufgänge und Sternschnuppen. Sie hören jeden Sonntag in den Predigten von den Wundern, die Jesus so vollbracht hat … falls sie nicht gerade schlafen. Sie sehen, wie Kranke gesund werden und wie ihr Getreide auf den Feldern wächst. Und wenn sie nur ein bisschen genauer hinsehen würden, hätte nicht nur der Herr Küster bemerkt, dass mit uns was nicht stimmt.“
„Was soll denn bitte mit mir nicht stimmen?“, fragte Maria säuerlich.
„Ich meine, dass wir leben und eben nicht tot sind, wie sie vermuten“, versuchte Gabriel es noch mal.
„Du bezeichnest dich also ernsthaft als ein Wunder?“, kiekste das Jesuskind. Gabriel sprang aus der Krippe und beugte sich drohend über Jesus.
„Du kleiner, unnötiger Holzkopf …“
„Er kommt!“, schrie Josef und löste damit eine Hektik aus, die man Holzfiguren gar nicht zugetraut hätte. Der Hirte jagte hinter seinem Lämmchen her, das keine Lust hatte, wieder einen Tag auf seinen Schultern zu verbringen.
„Wir reden heute Abend weiter!“, zischte Gabriel Jesus zu und eilte zu seinem Platz. Maria stellte hastig das Traktat zurück und flitzte zum Altarraum, als der Küster den Kirchhof bereits halb überquert hatte.
„Hey“, quiekte Jesus, „würde mich bitte jemand zurück in die Krippe legen?“
Die drei Weisen stolperten über die Säume ihrer Gewänder, rempelten sich gegenseitig an und stritten darum, wer welches Gefäß in die Hände nehmen musste, als der Küster den Schlüssel im Schloss drehte. Gabriel versuchte sich zu erinnern, wie er seine Arme zu halten hatte. Josef nahm widerwillig seinen Platz ein und seine Laterne auf. Und gerade, als der Küster das schwere Portal der Kirche öffnete, ließ Maria sich auf die Knie nieder.
Der Herr Küster schritt langsam das Kirchenschiff hinunter und sah eine Weile die heilige Familie an. Er nahm das Jesuskind hoch und bettete es sanft in der Krippe. Dann strich er über Marias absolut starre, unbewegliche, hölzerne rechte Hand, die gestern noch so ehrfürchtig gefaltet gewesen war, nun aber auf dem Rand der Krippe ruhte.
Noch knappe drei Wochen, dachte er müde, dann stecke ich sie alle wieder ins Stroh!
HEIKE BINDER
23 Kerzen für Fiete
Ein eisiger Wind wehte durch die Straßen Hamburgs. Der Winter kam früh in diesem Jahr. Fiete drückte sich an den Getreidespeichern herum, um ein wenig Schutz zu finden. In seinen durchlöcherten Taschen hatte er nur einige Kohlen, zwei Zündhölzer und ein Stück Brot für die Nacht. Nun hoffte er darauf, ein paar Holzscheite in der verlassenen Speicherstadt zu finden.
Kein gutes Jahr, dieses 1839. Im Januar war sein Vater auf See geblieben, bei einem Sturm um Kap Horn war sein Schiff untergegangen. Dann war auch noch die Mutter bei der Geburt der kleinen Schwester gestorben. Der Säugling hatte keine Chance gehabt zu überleben. Es gab niemanden in der Familie oder in der Nachbarschaft mehr, der sich um ihn und seinen großen Bruder Jan gekümmert hatte.
Eine Generation vorher war die Familie vom Land gekommen. Als der Gutsherr den Pachthof freigab, blieb nur genügend Land für den ältesten der Söhne. Fietes Vater zog in die Stadt. Aus der Landratte, die nichts so sehr wie den Duft der Erde liebte, war ein Seemann geworden. Die große Stadt versprach anfangs viel – und hielt dann wenig. Reichlich Arbeit für einen mageren Tageslohn. Und so kamen alle, für die es kein Land mehr zu bewirtschaften gab, in die Fabriken der Städte. Wer die Zwölfstundenschichten