Im Literaturkanon des deutschen Bürgertums und damit auch dem der Schulen und Universitäten hatte der auch durch die Vertonungen von Robert Schumann populäre Dichter mindestens bis 1918, wenn nicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, seinen festen Platz – und dies keineswegs ausschließlich als Autor des Schlemihl, dem Ernst Ludwig Kirchner während des Ersten Weltkriegs seinen Zyklus von Farbholzschnitten widmete. Gedichte wie Das Riesenspielzeug, Das Schloss Boncourt, Die Sonne bringt es an den Tag oder Salas y Gomez fanden Eingang in die Lesebücher von Generationen. Es gibt die schöne Geschichte des 1912 geborenen Curtius-Schülers Werner Ross, der Chamisso über ein im Haushalt vorhandenes Dichterquartett kennengelernt hatte und lapidar feststellt: »Da in den Dichterquartetten alle Dichter, groß und klein, je vier Werke verfasst haben, werden auf dem Kärtchen der ›Peter Schemihl‹, das ›Schloß Boncourt‹, ›Frauen-Liebe und -Leben‹ und ›Die alte Waschfrau‹ gestanden haben, die vier Titel, die ausnehmend beschlagenen Literaten und Liebhabern heute noch einfallen.« Mit dem Gedichtzyklus Frauenliebe und -leben habe Chamisso zum Lieblingsdichter des Biedermeier werden und zugleich als Sympathisant der Pariser Revolution von 1830 erscheinen können, schreibt der 1926 geborene Günter de Bruyn in seinem Buch Die Zeit der schweren Not, das, wie sein Untertitel verrät, »Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815« ausbreitet und dessen Patron und Schirmherr niemand anderes ist als Adelbert von Chamisso – ein vorläufiger Schlussakkord zur offenbar bis heute nicht ganz abgerissenen Kette der literarischen Chamisso-Rezeption in Deutschland. Doch selbst wenn man den 1936 im Amsterdamer Exil und 1958 in zweiter Auflage erschienenen Chamisso-Roman Der Schlemihl von Hans Natonek nicht vergisst und zudem darauf hinweist, dass das Motiv vom verlorenen Schatten nicht nur Wilhelm Raabe oder Hugo von Hofmannsthal, sondern nach 1960 auch James Krüss, Christoph Meckel, Elisabeth Plessen und andere Autoren fasziniert hat – man darf sich doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Präsenz des Dichters im Laufe des 20. Jahrhunderts selbst bei Literaten und Germanisten gegenüber der von 1900 eklatant abgenommen hat. Damit befindet sich Chamisso bedauerlicherweise in guter Gesellschaft. Ihn wieder mehr ins öffentliche Gespräch zu bringen, haben verdienstvolle Editoren und Kommentatoren mit einigem Erfolg versucht, und dieser Erfolg ist auch der jüngst in Kunersdorf gegründeten Chamisso-Gesellschaft zu wünschen. In ihrer Satzung sind die Ziele der Gesellschaft zusammengefasst, und deren erstes heißt Interkulturalität, genauer: »Menschen und Institutionen aus allen Ländern und Sprachen zusammenzuführen, die sich im Sinne Chamissos aktiv für den übernationalen wissenschaftlichen und literarischen Austausch einsetzen.« Das ist ein Ziel, mit dem sich die Initiatoren und Organisatoren des Chamisso-Preises ohne weiteres identifizieren können. Diesen Preis und seine Geschichte möchte ich als Leuchtturm der Chamisso-Rezeption seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Denn die Initiative Harald Weinrichs, einen Preis für herausragende literarische Werke in deutscher Sprache, die von Autoren anderer Muttersprachen beziehungsweise Herkunftskulturen geschrieben wurden, nach Adelbert von Chamisso zu benennen, hat die Rezeption des zuvor ein wenig in Vergessenheit geratenen Dichters neu belebt und weitergeführt.
Der Adelbert-von-Chamisso-Preis wird seit 1985 verliehen, anfangs gemeinsam von der Robert Bosch Stiftung, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und dem Institut für Deutsch als Fremdsprache der Universität München, seit 2004 allein von der in Stuttgart angesiedelten Stiftung. In seinem Aufsatz Ein Rinnsal, das Fluss und Strom werden wollte rekapituliert Harald Weinrich, der Initiator des Ganzen, die Vorgeschichte des Preises und teilt auch mit, weshalb Chamisso als Namensgeber der Auszeichnung dem ebenfalls ins Spiel gebrachten Elias Canetti letztlich vorgezogen wurde. Klar war, dass er »auf den verschlungenen Wegen des Exils hierzulande ein großer Dichter, ja ein Klassiker der deutschen Literatur geworden war«. Aber: »Bei der Option Chamisso spielte auch dessen weltbekannte Novelle von Peter Schlemihl, dem Mann ohne Schatten, eine beträchtliche Rolle. Es sollte damit deutlich werden, dass die ›Chamisso-Autoren‹, wie wir später gelegentlich verkürzt sagten, auf dem Weg in die deutsche Literatur ihren Schatten nicht einbüßen sollten.« Chamisso selbst habe sich, so Weinrich, mit einem national oder eurozentrisch begrenzten Weltbild niemals abgefunden. »Und so denke ich auch, dass er an dem Preis, der seinen Namen trägt, seine helle Freude gehabt hätte.« Wie dem auch immer sei – der Preis, dessen Zustandekommen naturgemäß nicht nur Harald Weinrich und der ihn finanziell tragenden Robert Bosch Stiftung zu verdanken ist, sondern auch etlichen anderen Personen, von denen hier nur Irmgard Ackermann und Karl Esselborn zu nennen sind, dieser Preis hat sich im Laufe der Zeit zu einem der angesehensten deutschen Literaturpreise entwickelt. Das in jeglicher Hinsicht weite Spektrum der Literatur, die von den durchaus sehr unterschiedlichen Preis- und Förderpreisträgern geschrieben wird, hat sich seinen festen Platz in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gesichert. Diese Literatur wird weltweit zur Kenntnis genommen und in Forschungsarbeiten und auf entsprechenden Tagungen analysiert und bewertet.
Mit den Augen des Fremden lautete der Titel der schönen Ausstellung, die das Kreuzberg Museum in Berlin vor sieben Jahren auf die Beine stellte, und in der Einleitung zu deren ebenso schönen Katalog heißt es programmatisch: »Chamisso war jemand, der in verschiedenen Kulturen, mit verschiedenen Sprachen, in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten gelebt und mit Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit verkehrt hat. Gerade das hat ihn zu einem Wissbegierigen gemacht und zu einem offenen Geist … Neugier, Offenheit und vor allem Respekt im Umgang mit dem Fremden können wir noch heute von Chamisso lernen. Und noch etwas zeigt er uns: der Migrant, der seine Heimat verlässt, um in einem anderen Land zu leben, bereichert die Aufnahmegesellschaft – vorausgesetzt, die neue Heimat ist bereit, ihn mit dem von ihm mitgebrachten Kulturschatz anzunehmen.« Wenn man das gelten lassen möchte, dann ergibt sich die enge Verbindung des Autors und großen interkulturellen Vermittlers Adelbert von Chamisso mit seinen schreibenden