Wagners Antisemitismus. Dieter David Scholz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dieter David Scholz
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783534736157
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bezeichneten Schrift im Jahre 1869 sollen in kurzer Zeit bereits mehr als 170 Gegenschriften11 veröffentlicht worden sein. Spätestens von diesem Zeitpunkt an, so sollte man meinen, hätte es eigentlich keine biographisch verfahrende Literatur mehr über Wagner geben können, die nicht auch immer Wagners Antisemitismus zu reflektieren gehabt hätte.

      Gleichwohl gab es schon damals (und gibt es noch heute) Wagner-Literatur, die, wie Julian Schmidt (1869), Wagners Judenhass als „nur eine von den verschiedenen Marotten Wagners“12 bagatellisierte, wenn nicht völlig ignorierte. Bei Durchsicht der immensen Wagner-Literatur13 entsteht der Eindruck, dass es sogar die überwiegende Mehrzahl aller Publikationen über Richard Wagner ist, die das Riff seines Antisemitismus zu umschiffen sich bemüht.

      Im Folgenden sollen zwei repräsentative Beispiele aus der Wagner-Literatur zitiert werden, die typische Strategien der Verharmlosung des Wagner’schen Antisemitismus dokumentieren.

      Einer der ersten Autoren, die sich wissenschaftlich mit Wagner auseinandersetzten, war der jüdische Musikhistoriker Guido Adler. Seine Verharmlosungsstrategie kann als durchaus typisch gelten: In seinen 1903/1904 gehaltenen Wagner-Vorlesungen, die, der Autor verschweigt es nicht, „von Ehrfurcht erfüllt“14 waren, wird Wagners Judenhass, der sich zu Adlers Zeit nicht totschweigen ließ, zumindest großzügig entschuldigt mit dem Hinweis darauf, dass er, Wagner, ja nicht als Theoretiker, sondern als Künstler schreibe. Folglich habe man Wagners Äußerungen über das Judentum nicht gar so ernst zu nehmen: „Wagner bezeichnet die große Opposition glattweg als ‚Judenschaft in der Musik‘. … Er jagt da nach einem Phantom, welches der Gegenstand vieler Treibjagden gewesen ist. Etwas mehr Maß hätte man auch von dem erregten Künstler erwarten dürfen.“15

      Die offensichtlich auch für Adler unübersehbaren „Widersprüche und auch die einzelnen Unsinnigkeiten seiner Axiome“16 bemüht sich der Autor mit einem methodisch fragwürdigen Ausweichmanöver zu überspielen, das interpretatorischer Willkür Tür und Tor öffnet. Hinsichtlich des Judenaufsatzes von 1850 heißt es: „Seine theoretischen Abhandlungen für sich sind ein Irrgarten, in welchem sich nur derjenige zurechtfinden kann, welcher Wagners Kunstwerke kennt, genau kennt.“17 Adler entschuldigt und rechtfertigt also Wagners Theorie, indem er sie ausschließlich aus der künstlerischen Praxis verstanden wissen möchte.

      Etwa siebzig Jahre nach Adler wird sich Hartmut Zelinsky – wenn auch mit entgegengesetztem Vorzeichen – der gleichen Methode bedienen (auf die noch detailliert einzugehen sein wird), um Wagners Kunst, sein Musikdrama also, ausschließlich aus (willkürlich zusammengesuchten und zu einem künstlichen System montierten) theoretischen Äußerungen von ihm erklären zu können.

      Auch der Musikschriftsteller Paul Bekker, um ein Beispiel der Wagner-Literatur aus der Zeit der Weimarer Republik heranzuziehen, versucht in seinem ohne Zweifel bedeutenden Wagner-Buch von 1924, den Wagnerschen Antisemitismus gewaltig zu entschärfen. Bekker betrachtet diesen „ebensowenig realpolitisch“18 wie auch andere theoretisch-diskursiv geäußerte Gedankenbildungen Wagners, etwa seine sozialistischen Ideen. Dabei lässt Bekker erstaunlicherweise seine gedankliche Sensibilität und Differenziertheit vermissen, mit der er in der Erörterung musikalischer Fragen besticht. Er ignoriert schlichtweg den konkreten Antisemitismus Wagners und wirft ziemlich unbekümmert den Juden-Aufsatz von 1851 kurzerhand in einen Topf mit den frühen Kunst- und den späten Bayreuther Regenerations-Schriften. Wagner ist für Paul Bekker auch als Verfasser antisemitischer Schriften theoretisch nicht ganz ernst zu nehmender Künstler – ein Künstler, dessen Ideen und Abhandlungen, seien sie auch mit dem Anspruch theoretischer Geltung vorgebracht, nur mehr als Versinnbildlichungen künstlerischer Assoziationen und Vorstellungen zu betrachten seien. Bei Wagners Antisemitismus, so Bekkers Argumentation, liege etwas völlig „anderes vor als persönliche oder sachliche Gegnerschaft“.19 Wagners „Judenbegriff“ wird in Verkennung oder Leugnung auch damals bereits bekannter Fakten als ein „in der Besonderheit seiner Künstlerentwicklung begründetes Phänomen“ betrachtet: Er beruhe auf dem „Bedürfnis kritisch-spekulativer Vorstellungsbildung, wie die Entstehung seiner Schriften und gedanklichen Darlegungen überhaupt“.20 Für Paul Bekker bedeutet der Begriff „Jude“ in Wagners Schriften schließlich nichts weiter als ein Symbol, als Veranschaulichung einer künstlerischen Idee: „Der Jude ist die Dissonanz, die die Harmonie der Welt stört“, ist „plastisches Modell“, das der „Entfaltung zur Dämonie des Dunkels fähig ist“. Warum gerade der Jude, so fragt man sich bei heutiger Lektüre. Und da verrät sich Paul Bekkers eigenes antisemitisches Vorurteil: „Als solches Modell bietet sich der Jude, wie er in der Hervorhebung aller niedrigen Eigenschaften seiner Rasse durch Jahrhunderte in der Volksphantasie lebt.“21

      Mit der Machtergreifung Hitlers und der damit einhergehenden nationalsozialistischen Wagner-Beweihräucherung wie -Einverleibung begann ein neues, zweites Kapitel der Wagner-Forschung, sofern man von der Literatur jener Zeit überhaupt von „Forschung“ sprechen darf. Ein einheitliches, der herrschenden antisemitischen Doktrin gefügiges Wagner-Bild wurde mit Brachialgewalt propagiert: Wagner sollte gewissermaßen als pränationalsozialistischer Muster-Antisemit und deutschester der Deutschen dastehen.

      Im Vorgriff auf den rezeptionsgeschichtlichen Teil dieses Buches soll dieses Wagner-Bild schon an dieser Stelle kurz charakterisiert werden. Ich will es hier allerdings dabei bewenden lassen, in nuce die Tendenz dieses zwar wirkungsgeschichtlich auf so fatale Weise bedeutsamen, doch bei nüchternem Verstande besehen geradezu absurden Schrifttums darzustellen:

      Da die ‚Judenfrage‘ eine zentrale Frage, der Antisemitismus eine tragende Säule der nationalsozialistischen Ideologie darstellte, war den Ideologen des Dritten Reiches alles willkommen, was sich in den Dienst der herrschenden Weltanschauung stellen ließ, und sei es durch bewusst verfälschende Auslegung. Wenn das auch keineswegs nur für Richard Wagner gilt (auch Goethe und Nietzsche, um nur zwei namhafte Autoren zu nennen, wurden zu Ahnherren nationalsozialistischer deutscher Gesinnung erklärt), war doch vor allem er es, auf dessen Antisemitismus sich die Nationalsozialisten berufen zu können glaubten. Hitler soll gar behauptet haben, er sehe in Wagner seinen einzigen Propheten.22

      Freilich fiel es den Nationalsozialisten nicht allzu schwer, das antisemitische Vokabular der einschlägigen Schriften und das (besonders aus heutiger Sicht) nationalistisch anmutende Vokabular mancher Dramen Wagners im Sinne ihrer Ideologie auszulegen. Und so wurden sie nicht müde, Wagner von ihren gleichgeschalteten Kulturschaffenden als geistigen Ahnvater der nationalsozialistischen Bewegung und deren militanten Judenhasses deklarieren zu lassen, wie ein reichhaltiges Schrifttum belegt.23

      In diesem Zusammenhang muss schon hier wenigstens darauf hingewiesen werden (was im Folgenden en détail dargestellt werden wird), dass in Übereinstimmung mit dem kulturellen Sendungsbewusstsein Cosima Wagners die völkisch-national gesinnten Autoren des „Bayreuther Kreises“24 die nationalsozialistische Wagner-Auslegung vorbereiteten. Zu nennen sind in erster Linie Autoren wie Leopold von Schroeder, Hans von Wolzogen, Heinrich von Stein, Ludwig Schemann und vor allem Houston Stewart Chamberlain, der das Werk seines Schwiegervaters und die Kulturinstitution Bayreuth den politischen Intentionen Adolf Hitlers ideologisch dienbar zu machen verstand – so wie Winifred Wagner dem Hitler’schen Wagnerismus tatkräftig unter die Arme griff.

      Mit dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur setzte nach 1945 eine neue, die dritte Phase der Wagner-Rezeption ein, eine Phase, die keineswegs einheitlich genannt werden kann. Im Gegenteil: Seit 1945 hat die Wagner-Forschung durchaus sehr verschiedene Wege eingeschlagen und hat sich sehr unterschiedlicher Methoden bedient. Erstmals aber, und das ist das Neue und Gemeinsame, was alle Wagner-Literatur nach 1945 verbindet (von Ausnahmen sei bei diesem Versuch eines skizzenhaften Überblicks einmal abgesehen), setzte jetzt methodisch-systematische Forschung ein.

      Bewegte sich die Wagner-Literatur vor der nationalsozialistischen Wagner-Deutung zum größten Teil im extrem subjektiven Spannungsfeld zwischen Hagiographie und Attacke, beschäftigte sie sich nach 1945, vorsichtig zunächst im Bereich der Musikwissenschaft, dann auch in der Literaturwissenschaft und in weiteren wissenschaftlichen Disziplinen betont sachlich mit dem Thema Wagner – freilich