Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Luserke-Jaqui
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772002151
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begrenzt sind)“53.

      Eine SozialgeschichteSozialgeschichte der Literatur erhebe wie alle Theoriebildung einen normativ-historiografischen Anspruch. Sie ziele auf eine Neumodellierung der literaturgeschichtlichen Periodisierungen. Die Gefahr einer bloßen Umschreibung (im Sinne von TransformationTransformation) bisheriger Epochenbegriffe wird aber erkannt. Wie dies konkret zu bewerkstelligen ist, bleibt indes unklar. Nachhaltig wird vor einem essenzialistischen Sprachgebrauch, der sowohl in der Systemtheorie selbst als auch bei den diversen Adaptionsversuchen in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft drohe, gewarnt. Aussagen wie ‚das System handelt, steuert oder entwickelt sich‘ seien ein Rückfall in ontologische Modellvorstellungen, die es abzuwehren gelte.54 Die Forderung nach mehr Empirie in der Literaturgeschichtsschreibung könnte man bereits als ein Rückzug aus der Theoriediskussion verstehen. Doch wird damit lediglich angemahnt, dass bei allem systemtheoretischen Überschuss einer theoretischen Grundlegung der Sozialgeschichte der Literatur das Datenmaterial, eben die Texte selbst, nicht vergessen werden dürften. Die Bemühungen der Münchener Arbeitsgruppe können in einem Satz zusammengefasst werden: „Sozialgeschichte der Literatur soll – im Sinne unseres Vorgehens – eine Perspektive literaturwissenschaftlicher Praxis entwerfen, die im zugeordneten Untersuchungszusammenhang theoretisch begründet, systematisch entwickelt und in ihren Erkenntniszielen kontrolliert ist“55.

      Insgesamt wäre es unumgänglich, eine kritische, gleichwohl sorgfältige Diskussion mit Positionen der Systemtheorie, der Empirischen Literaturwissenschaft und des Radikalen Konstruktivismus zu führen. Dabei müsste geprüft werden, ob die Systemtheorie und die Empirische Theorie der LiteraturLiteratur sich tatsächlich einen monopolistischen Kommunikationsstatus verschaffen, der im Verbund mit dem systemtheoretischen Deduktionismus zu einer Kritikimmunisierung führt. Systemtheorie wäre demnach das System, das sich selbst erzeugt. Diskursanalytisch gesehen ist das, was diese Art von Systemtheorie generiert, der obsolet gewordene Versuch, Wahrheit über die Restituierung von Totalität zu normieren. Der Vorwurf der Generalisierung von Leerformeln, der sowohl an die Adresse der Systemtheorie als auch des Radikalen Konstruktivismus gelegentlich gerichtet wird, müsste genau geprüft werden. Auch hier gilt der bewährte Grundsatz, die Tauglichkeit einer Theorie zeigt sich erst in ihrer historischen Anwendung.

      Zur Geschichte der textualistischen KulturtheorieKulturtheorie und mithin zur Geschichte des semiotischen KulturbegriffsKulturbegriff gehört, dass schon Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich im berühmten Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 216 diesen selbst ins Spiel gebracht hat: „Selbst in unsern dürftigen KulturgeschichtenKulturgeschichte, die meistens einer mit fortlaufendem Kommentar begleiteten Variantensammlung, wozu der klassische Text verloren ging, gleichen, spielt manches kleine Buch, von dem die lärmende Menge zu seiner Zeit nicht viel Notiz nahm, eine größere Rolle, als alles, was diese trieb“56. Neu ist der semiotische Kulturbegriff also nicht, für die Theoriediskussion in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft war er aber ungemein stimulierend. Mitte der 1990er-Jahre befand Klaus P. Hansen über diesen Kulturbegriff:

      „Wenn man ihn auf wirklich dialektische Weise verwendet, besitzt er das Zeug, die Kulturwissenschaften paradigmatisch auf ein neues Fundament zu stellen. Er könnte der Ausgangspunkt werden sowohl für weiterführende theoretische Überlegungen als auch – und das insbesondere in den Landeskunden – für neue Forschungspraxis. So alt die Kulturwissenschaften sind, sie stehen wieder einmal am Anfang“57.

      Zum Heilsversprechen tritt nun die Heilserwartung. Dass damit auch der semiotische KulturbegriffKulturbegriff überfordert ist, liegt auf der Hand.

      Gleichsam in den Rang eines Locus classicus wurde der Aufsatz von Clifford GeertzGeertz, Clifford Dichte BeschreibungDichte Beschreibung (1973) erhoben.58 Im Theorievertrieb wird dieser Publikation geradezu als Keimzelle der Kultur-als-Text-Kultur als TextTheorie gehuldigt. Ich fasse jene wesentlichen Aspekte und Akzente von Geertz zusammen, die in der kulturwissenschaftlichen Debatte in Deutschland eine zentrale Rolle spielen. Geertz beruft sich zunächst auf Max WeberWeber, Max, um sein Verständnis eines semiotischen Kulturbegriffs darzulegen.

      „Ich meine […], daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen“59.

      Den Ausdruck dichte Beschreibung übernimmt Geertz von Gilbert RyleRyle, Gilbert. Darunter versteht Geertz das, was man traditionell als InterpretationInterpretation, also als die eigentliche Deutungsarbeit der Fakta und Positiva bezeichnet, welche der Ethnologe – um diesen Wissenschaftstypus geht es Geertz allein – im ethnografischen Arbeiten leistet. „Analyse ist […] das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen […] und das Bestimmen ihrer gesellschaftlichen Grundlage und Tragweite“60. Interessant dabei ist, was Geertz innerhalb dieses Zitats in einer Parenthese anführt. Eine literaturwissenschaftlicheLiteraturwissenschaft Tätigkeit dürfe nicht mit dem Vorgang des Dechiffrierens verwechselt werden. Die Chiffre eignet dem Objekt, mithin bedeutet Dechiffrieren den Zugang zu den Objektchiffren freilegen. Literaturwissenschaftliches Arbeiten hingegen ist für Geertz ein wissenschaftliches Sekundärphänomen, nämlich das der DeutungDeutung des Objekts durch den Interpreten. Doch dagegen muss geltend gemacht werden, dass Chiffren sich nicht von selbst und nicht sich selbst deuten. Die Ethnografie ist für Geertz dichte Beschreibung, es geht dabei um die „Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind“61. KulturKultur sei öffentlich – mit dieser Behauptung eröffnet GeertzGeertz, Clifford den dritten Teil seines Essays. Kultur bestehe aus Ideen, sei unkörperlich und ihr ontologischer Status uninteressant. Es geht allein um die Frage nach der Bedeutung der Kultur oder kultureller Phänomene. Und nun schließt sich der Kreis, „Kultur ist deshalb öffentlich, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist“62. „Als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen […] ist Kultur keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar sind“63. Ethnologie, welche diese Beschreibungsarbeit leistet, ist eine Form der InterpretationInterpretation zweiter und dritter Ordnung. Ethnologische Interpretationen sind FiktionenFiktion, wobei Geertz ausdrücklich darauf hinweist, dass sich dieser Begriff nicht auf den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen, sondern allein auf den Aspekt des Hervorbringens, des Gemachtseins bezieht. Etymologisch zwar korrekt, terminologisch aber problematisch verweist er auf die ursprüngliche Bedeutung von fictio als Gemachtes, Gebildetes. Fiktion indes meint sowohl umgangssprachlich als auch wissenschaftlich etwas Erfundenes; hier müssen also die Rezipierenden entscheiden, ob sie der eigenwilligen Lesart von Geertz folgen mögen oder ob sie etwas in diese vermeintliche Kultur-als-Text-Kultur als TextTheorie über die Brücke der Wortgleichheit hineinlesen, das Geertz ausdrücklich ausschließt. Was die Qualität einer Interpretation ausmacht, erklärt Geertz ebenfalls. Er spricht nicht von der richtigen oder der wissenschaftlichen, sondern von der guten Interpretation. Die gute Interpretation „von was auch immer – einem Gedicht, einer Person, einer Geschichte, einem Ritual, einer Institution, einer Gesellschaft – versetzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird“64. Methodologisch gesehen nähert sich dies einem hermeneutischenHermeneutik Verständnis der Kayser-Staiger-Schule in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft und zielt letztlich auf die interpretatorische Feier einer Affirmation des Gegenstandes, restaurative Bedeutung anstelle kritischer DeutungDeutung, statt der Fragen an den Gegenstand nun geheiligte Emphase.65 Eine ethnologische Interpretation, so Geertz weiter, versucht den sozialen Diskurs niederzuschreiben, ihn festzuhalten. Dieser Moment der Verschriftlichung garantiert Dauer des Flüchtigen. Dies gilt allerdings, so kann man kritisch einwenden, allgemein für sprachliche Konzeptualisierungsformen sozialen Handelns. Das Besondere der ethnografischen Interpretation scheint lediglich im Gegenstandsbereich der Beschreibung, nicht aber im Beschreibungsvorgang selbst zu liegen. GeertzGeertz, Clifford macht in diesem Zusammenhang auf ein grundlegendes Problem aufmerksam, das er zwar eng am Beispiel seiner Disziplin diskutiert, das sich aber ebenso gültig für jegliche Form kulturwissenschaftlichen Arbeitens in Anschlag bringen lässt. Die InterpretationInterpretation folge