Der Stallknecht zeigte ihnen den Eingang in das Gasthaus.
»Nochmals – guten Abend und frohe Ostern! Der Sohn soll wohl in Erfurt studieren?«, riet Ziegler richtig. Er wusste, wann die Väter ihre Söhne zur Intitulation brachten.
»Frohe Ostern. Ja, nach der Lateinschule das Studium! Kommen viele angehende Studenten zu Euch?«, fragte Hans.
»Lasst uns an die neunzehntausend Erfurter sein, davon gibt es fast achthundert Geistliche und immerhin fünfhundert Studenten«, berichtete der Wirt stolz, der er sich als Mitglied des Rates natürlich bestens auskannte. »Jedes Jahr werden es mehr. Hat einen guten Ruf, unsere Universität. Gratuliere! Mach was draus, Junge!«, wandte er sich an Martin. »Wie lange bleibt Ihr?«
»Ich werde übermorgen abreisen, und Martin zieht bereits morgen in eine der Bursen.«
»Ihr seid woher?«
»Aus Mansfeld.«
»Dann müsste er eigentlich in die Georgenburse für sächsische und thüringische Studenten. Augustinerstraße zwischen Georgskirche und Nikolaikirche, gleich bei der Lehmannsbrücke. Der Fluss fließt direkt am Hof vorbei. Die Lehmannsbrücke ist eine Marktbrücke. Da ist immer was los. Viel zu sehen. Ein Stückchen weiter ist das Augustinerkloster. Wird sicher eine schöne Zeit. Auch ich habe an der Universität studiert, ohne das Bakkalaureats-Examen. Die Arbeit hier musste gemacht werden.« Er lachte etwas wehmütig. Dann gab er ihnen einen großen eisernen Schlüssel für die Kammer mit den zwei Betten. »In der Gaststube bekommt Ihr noch bis neun Uhr eine warme Suppe und Bier.«
Hans und Martin bedankten sich, nahmen ihr Gepäck und gingen in die Kammer. Sie lag im ersten Stock. Die Decke des Raumes hatte bemalte Balken, zwischen den beiden Betten stand ein Tisch mit zwei Stühlen, und die Betten selbst hatten blaue Vorhänge, die an den Ecken zurückgebunden waren. Die Kissen und Zudecken – ebenfalls blau mit weißen Blaudruckmustern – waren dick mit Daunen befüllt. Ein kleiner Ofen stand neben der Tür. Ziegler hatte gesagt, er würde gleich nach der Magd schicken, die den Ofen anfeuern und heiße Bettpfannen bringen würde. Die Aprilnächte wären noch recht kalt. Zufrieden, heile angelangt und so gut untergekommen zu sein, wollten Martin und sein Vater nur noch kurz in der Gaststube sitzen und etwas zu sich nehmen.
In der Stube gab es fünf große Holztische, die bis auf einen auch alle besetzt waren. Als sie saßen und sich umblickten, sahen sie zur Rechten zwei dunkelhäutige Männer mit schwarzen Schnurrbärten und roten Gewändern. Ganz in der Ecke saß ein Afrikaner mit einem Juden am Tisch.
»Ich hatte gehört, Erfurt hätte keine jüdischen Bürger mehr«, wunderte sich Hans. Er wusste, dass die Juden aus Mansfeld einst gekommen waren, weil sie aus Erfurt vor nunmehr siebenundvierzig Jahren vertrieben worden waren. Er hatte schon überlegt, ob er bei einem von ihnen einen Kredit für seine erste eigene Hütte aufnehmen sollte.
»Bürger, Vater, Bürger. Das heißt doch nicht, dass sie als durchreisende Händler nicht in Erfurt sind.«
»Hier geht’s ja bunt zu. Na ja, ist halt ein Handelsort mit Stapelrecht. Hier kommen alle durch, die von West nach Ost, von Nord nach Süd wollen. Dann packen sie drei Tage hier aus, bevor sie weiterfahren können. Vielleicht musst du mir irgendwann einmal etwas besorgen, das es nur hier gibt. Dienstagfrüh sehen wir uns zusammen noch mal um. So viel Zeit habe ich, bevor ich fahre.«
Die Suppe war kräftig, das Bier süffig. Beim Neun-Uhr-Glockenschlag wurden ihre Krüge eingesammelt, und sie gingen in ihre Kammer, die nun behaglich warm war. Endlich am Ziel, fielen sie schnell in einen tiefen Schlaf und hörten noch nicht einmal mehr den Nachtwächter, der um zehn seine Runden drehte.
Am Ostermontag, so stand es in dem Brief, den Hans vor einigen Wochen von der Universität erhalten hatte, war für alle neuen Studenten die Ostermontagsmesse bereits Teil ihrer Einschreibung. Sie machten sich nach dem Frühstück zu Fuß auf den Weg zur Michaeliskirche. Martin blickte immer wieder staunend umher, so sehr beeindruckten ihn das bunte Treiben und die vielen Menschen auf den Straßen. Sie hatten es nicht weit. Nur die Futterstraße entlang bis auf den Wenigemarkt, dann durch einen Durchgang im Turm der Ägidienkirche über die Krämerbrücke mit ihren vielen Läden, am anderen Ende durch das Tor im Kirchenschiff der Benediktskirche wieder herunter und gleich die zweite rechts in die Michaelisstraße. Dort an stattlichen Häusern und der Großen Waage vorbei, dann rechts hinter der Dreifaltigkeitskapelle mit dem Erker zur Michaeliskirche. Sie wussten, dass sie richtig waren, denn gegenüber befand sich, nicht zu übersehen, das Collegium Maius, das große Hauptgebäude der ehrwürdigen Universität zu Erfurt. Studenten und Professoren in ihren Talaren gingen zwischen den beiden Gebäuden hin und her.
»Komm, wir fragen jemanden, ob wir dich irgendwo anmelden müssen«, sagte Hans.
Sie gingen auf einen etwas älteren Mann mit rot-weißem Talar zu, der dem Lehrkörper angehören musste.
»Verzeiht. Dies ist mein Sohn Martin, der sich heute zum Studium einschreiben möchte. Wo soll er sich melden?«
»Oh, seid willkommen!« Der Mann reichte beiden die Hand. »Sucht Euch einen Platz in der Kirche, alles Weitere wird dort angesagt, die Studenten, die wir erwarten, werden aufgerufen und dann auf spezielle Plätze verwiesen. Schön, es freut mich, Martin, dass Ihr zu uns kommen wollt.« Er nickte höflich und verschwand eiligen Schrittes in der Kirche. Hans und Martin folgten ihm.
Drinnen herrschte ein aufgeregtes Hin und Her, jeder hatte wohl noch Verschiedenes zu erledigen. Als Gast konnte Martin dem Treiben noch recht entspannt zusehen. Das würde im nächsten Jahr sicher schon anders sein. Es stellten sich noch andere Vater-Sohn-Gespanne neben sie, bei manchen war auch die Mutter dabei. Martin schaute sich um.
Die Kirche war nicht groß. Es gab eine Empore. Dort oben standen die älteren Studenten und blickten hinab auf die Neuankömmlinge. Über ihnen befand sich die Orgel, Grabplatten bedeckten den gesamten Boden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs gab es eine große Tür, die noch offen stand und den Blick in einen Kirchhof freigab. Martin konnte etwas Gras und einige Grabkreuze erkennen. Es gab Bänke an den Seiten, auf denen nun einige Magister und Professoren Platz nahmen. Die Reihen mit den Kniebänken um sie herum füllten sich, und die Glocken begannen zu läuten. Der Chorbereich lag eine Stufe erhöht. Darauf stand der Altartisch mit dem Flügelaltarbild, das in der Mitte den Heiligen Levi zeigte. Licht fiel durch die Fenster auf die mittleren Reihen.
Die Letzten hatten sich nach dem stillen Gebet von ihren Knien erhoben. Jeder versuchte nun, ruhig zu stehen. Der Priester der Kirche trat nach vorne, begrüßte den Rektor, die Professoren und Doktoren, die Magister, die Bakkalare, Studenten, Neuankömmlinge und schließlich die Gäste und Erfurter. Er wünschte allen gesegnete Ostern und begann dann seinen Gottesdienst mit den Worten: »Der Herr der Kirche spricht: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Es folgten die Ostergeschichte, Gebete, die Predigt. Martin hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war damit beschäftigt, sich der Reihe nach alle Anwesenden in seinem Blickfeld anzusehen.
Am Ende übergab der Geistliche dem Rektor und Priester, der bis vor Kurzem noch das Pfarramt an der St. Andreaskirche innehatte, das Wort. Er hieß Jodokus Trutvetter. Martin hatte bereits gewusst, dass er ihn hier wiedersehen würde. Er war sein Lateinlehrer in Eisenach gewesen und hatte ihm die Universität von Erfurt ans Herz gelegt. Trutvetters Blick schweifte über die neue Studentenschar. Er erkannte Martin, nickte ihm ganz leicht mit einem anerkennenden Lächeln zu und richtete seine Augen dann zurück in die Menge. Martin schätzte ihn auf etwa vierzig Jahre, ungefähr so alt wie sein Vater, wenngleich bei ihm nicht die äußerlichen Spuren harter Arbeit zu sehen waren. Er trug einen Talar, eine goldene Amtskette und übergab jetzt das Universitätszepter einem älteren Studenten, der unauffällig hinter ihm stand und assistierte.
Trutvetter stellte sich vor. »Ich komme aus Eisenach.«
Hier stupste Hans seinen Sohn mit dem Ellbogen und schaute ihn bedeutsam an.
»Fünfundzwanzig Jahre bin ich nun schon mit Unterbrechung hier, zunächst als Student, nun als Rektor. Ich bin sowohl in der Theologie zu Hause als auch in der