»Du hättest schon viel früher kommen sollen mit diesem Problem, Raymund!«, hatte sein Onkel gesagt. »Ich war der Meinung, dass du mit den Benzenauers zu den Barfüßern gehen würdest.«
5
Konstantinopel, Januar 1578
»Die neue habsburgische Delegation unter dem Orator4 Ungnad wird in wenigen Wochen in der Stadt erwartet. Sultan Murad befiehlt dir, bei allen Zeremonien der Begrüßung, des Kniefalls und der Geschenkübergabe an seiner Seite zu stehen.«
»Welch große Ehre, gerne werde ich dem Befehl des großmächtigen Sultans nachkommen«, antwortete der Dolmetsch dem Minister.
»Für deinen Vorschlag allerdings, Spione ins Abendland zu senden, um Zugang zu den Waffen der Habsburger zu erhalten, fehlen uns die geeigneten Kandidaten. Von denjenigen, die dem Sultan bedingungslos ergeben sind, wird erwartet, dass sie neben unserer Sprache des Deutschen und Italienischen mächtig sein müssen. Keiner unserer Gefangenen bringt diese Voraussetzungen mit. Man wird wohl mit dem Anwerben hier im Palast beginnen.« Der Minister lächelte. Dem Dolmetsch verging mit einem Schlag das Lachen.
4 Diplomatischer Vertreter des Kaisers.
6
Dillingen, Sankt Sebastian5 1578
»Beim Grafen von Waldburg scheint ein ganzes Heer von Hexen ihr Unwesen zu treiben. Seine Eminenz hat für insgesamt neun Weibspersonen die Hinrichtungen erwirkt, und stellt euch vor, dreizehn weitere sind noch inhaftiert, wobei sich eine mit einem Scherben die Adern aufgeritzt hat und verblutet ist. In Isny und Wangen laufen die ersten Examinationen durch den Ravensburger Henker.«
Die Zuhörerschaft nickte interessiert. Paschalis gab sich teilnahmslos. Er verachtete den Wichtigtuer Coelestis, der regelmäßig das Mittagessen im Refektorium benutzte, um mit lauter Stimme seine hässlichen Neuigkeiten herauszuposaunen. Was für ein Unterschied zu den Essenszeiten bei den Benediktinern in San Paolo fuori le mura, wo Stillschweigen herrschte und aus der heiligen Schrift vorgelesen wurde. Nicht nur das Gesagte der geschwätzigen Dominikaner, sondern auch der Lärm schmerzte ihn.
Wenigstens lassen mich die Weißröcke in Frieden, dachte er sich. Er stand bereits fünf Jahre in den Diensten des Kardinals. Die Nähe zu ihm schützte ihn. Seines Körpers hatte sich niemand mehr bemächtigt. Tiziana di Santa Fiora, die berühmteste Kurtisane Roms, hatte ihn nach seiner Flucht aus dem Kloster aufgenommen, und sie hatte ihn gelehrt, den eigenen Leib zu genießen. Es hatte ihm alles bedeutet, wenn sie ihn zu sich in ihr Bett gerufen hatte und ihn teilhaben ließ an ihrer Lust. Sicherlich hatte sie ihn für ihre Zwecke benutzt, aber niemals hätte er ohne sie erkannt, welch ausdauernde Fähigkeiten ein Mann zu erlernen imstande war. Er war immer wieder versucht, sich einzugestehen, dass sie ihm fehlte, doch ihre schändlichen Taten verhinderten es. Sie hatte ihren Vater ermorden lassen, für ihren eigenen Vorteil den Mörder verraten und sogar die Unterschrift des Papstes gefälscht. Diese letzte Intrige war es gewesen, die dem Kardinal den Weg in die deutschen Lande geebnet hatte, wo er Ketzer und Hexen mit Feuer und Schwert bekämpfte. Paschalis war ihm treu ergeben, als Büßer wollte er mindestens doppelt so lange enthaltsam leben, wie er bei der Santafiora der Lust gefrönt hatte. Er unterdrückte seinen Trieb, auch wenn es ihm manchmal schwerfiel. Die Beschäftigung mit dem Verfassen von Klageschriften und Anträgen zu peinlichen Befragungen und Hinrichtungen hatte ihn anfangs nachdenklich gestimmt. Inzwischen war es ihm gleichgültig geworden. Das Schlimmste für ihn waren Gewaltanwendungen jeglicher Art. Ihm drehte sich dabei stets der Magen um. Nach der ersten Hinrichtung, zu der er den Kardinal persönlich begleitet hatte, hatte er flehentlich auf seine Tafel geschrieben: »Bitte, bitte keine weiteren Hinrichtungen.«
Der Kardinal sah es ihm nach und ließ ihn im Skriptorium malen und zeichnen, anstatt ihn auf »blutige Reisen« mitzunehmen, wie er es nannte. Dort war Paschalis zufrieden mit sich und der Welt. Was ihm wirklich fehlte, war etwas anderes: die warme Sonne Roms, die frische Brise vom Meer und die Küche der Santafiora.
5 20. Januar
7
Augsburg, 18. Mai 1578
Raymund hatte sich an diesem Sonntagabend mit seinem Onkel getroffen, um gemeinsam mit ihm in das großzügige Patrizierhaus der Witwe Eiselin unterhalb des Weinmarktes zu gehen. Es war ihm, als würde er nach Hause kommen. Wie er es unzählige Male in Leeder erlebt hatte, traf er auf eine begeisterte und froh gelaunte Versammlung von Schwenckfeldern aller Altersgruppen, Geschlechter und Stände.
»Schau an, ein junger Rehlinger aus Pilgerhausen! Sei herzlich willkommen, Raymund«, sagte die Witwe und umarmte ihn. Auch die anderen nahmen ihn freundlich auf.
Nach der Bibellesung, die von dem Herrn handelte, der seinen Knechten Talente anvertraute, die zwei der Knechte vermehrten, der dritte aber vergrub, stand ein stattlicher Mann in mittlerem Alter auf. Er hatte einen schwarzen Bart und ebenso schwarzes schulterlanges Haar.
»Wer ist das?«, flüsterte Raymund seinem Onkel zu.
»Der Goldschmied Altenstetter, hast du noch nie von ihm gehört?«
Raymund schüttelte den Kopf. Er war fasziniert von diesem Mann, der eine Auslegung und Erklärung der Bibelstelle vortrug. Sein in Schwarz und Grün gehaltener Umhang aus feinstem Samt verstärkte seine imposante Erscheinung und wies ihn als Meister und Gildenmitglied aus. Er verstand es, mit der Kraft seiner Worte und einer großen Gestik die Anwesenden in seinen Bann zu ziehen. »… denn jeder, dem unser Gott, der Schöpfer des Lebens und aller Dinge, eine Fähigkeit gegeben hat, verwende diese, damit sie sich entwickle und der Gemeinschaft oder einem höheren Zweck diene, denn dafür hat er sie uns gegeben. Wer seine Bestimmung noch nicht gefunden hat, suche nach ihr, wer seine Talente nicht kennt, frage nach ihnen und wühle im Sand des Alltäglichen, um Gott dem Herrn gefällig zu sein und seinem Dasein einen Sinn zu geben. Oft werden unsere Gaben unterdrückt durch Herkunft, Stand oder andere Hindernisse. Diese gilt es zu überwinden. Betet zum Herrn, dass er euch den Weg leite, um zu erkennen und zu Gottes Werkzeug zu werden, Amen.« David Altenstetter verneigte sich vor der aufmerksamen Zuhörerschaft, die ihm beipflichtend zunickte, und nahm wieder auf seinem Stuhl neben der Witwe in der ersten Reihe Platz.
Die Predigt hatte Raymund sehr nachdenklich gemacht. Er wusste, dass er ein Talent für den Beruf des Büchsenmachers hatte, und ja, er würde eine besondere Waffe erfinden. Aber waren seine Gründe dafür gottgefällig oder eitel und nichtig? Er musste sich eingestehen, dass er mit seinem Talent glänzen wollte. Es nagte an ihm, denn er wusste, er wollte eine Waffe erschaffen, um nie wieder hilflos dazustehen, nie wieder ohnmächtig zu sein. Er fragte sich, ob er beim Benzenauer auf dem richtigen Platz war oder ob Gott vielleicht etwas ganz anderes mit ihm vorhatte.
»Dieser Mensch hat etwas Begeisterndes und gleichzeitig Geheimnisvolles; Ihr müsst mir diesen Mann unbedingt vorstellen, Oheim«, raunte Raymund.
Nach dem Gottesdienst servierten die Mägde der Witwe Gebäck und Getränke, und ganz beiläufig machte ihn sein Onkel mit dem Goldschmied bekannt.
»Wie gefällt es dir denn in Augsburg, mein junger Bruder?«, wandte sich Altenstetter an Raymund. »Es ist bestimmt nicht einfach, sich an die Stadt zu gewöhnen, wenn man in den Wäldern aufgewachsen ist. Ich kann mir das nur schwer vorstellen, denn ich habe ausschließlich in Städten gelebt und gearbeitet.« David Altenstetter war noch größer, als es während seiner Ansprache den Anschein gehabt hatte.
»Leeder