Wie war diese Arbeit im RSHA organisiert? Wie und durch wen entstanden die EM? Am 28. Juni 1941 – sechs Tage nach Kriegsbeginn – ordnete Müller an: „Als zentrale Dienststelle für den Einsatz Rußland wird das Referat IV A 1 bestimmt.“ Alle diesen Komplex betreffenden Sachvorgänge des Amtes IV seien ihm zuzustellen.23 Genau eine Woche später verfeinerte Heydrich persönlich die Strukturen: Müller wurde zum Leiter eines Kommandostabes für das „Unternehmen Barbarossa“ ernannt, der sich seitdem wohl aus den damit schon befaßten Sachbearbeitern des Kommunismus-Referats IV A 1 zusammensetzte. Dies war eine naheliegende Entscheidung, da Müller als Amtschef IV ohnehin deren Vorgesetzter war und die exekutive Tätigkeit der sämtlich bereits in die Sowjetunion eingerückten Kommandos inzwischen begonnen hatte. Parallel dazu wurde die Institution eines Einsatznachrichtenführers geschaffen, der bei der RSHA-Gruppe II D ressortierte, jedoch Müllers Weisungsrecht unterstand. Dieser hatte die „Aufgabe, alle Standorte, Marschziele und Richtungen der Einsatzgruppen und Einsatzkommandos, alle technischen Nachrichtenverbindungen (Funk, Fernschreib- und Fernsprechverbindungen), Kurier- und Nachschubmöglichkeiten, Feldpostnummern usw. zu erfassen und auf den jeweilig zutreffenden Stand zu bringen“, war also als Nachrichtenoffizier konzipiert, der Kommunikation und Logistik sicherstellen sollte, ohne mit der Zusammenstellung der EM befaßt zu sein. Mit dieser Aufgabe eines Einsatznachrichtenführers wurde SS-Hauptsturmführer Dr. Theodor Paeffgen betraut, der bislang SD-Referent beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in Metz gewesen war.24 Er richtete sich im RSHA ein Lagezimmer ein, wertete die täglich eintreffenden Funkberichte der Einsatzgruppen und -kommandos für seine Zwecke aus, steckte auf einer Rußland-Karte deren jeweilige Positionen mit Fähnchen ab und fertigte daraus Standortberichte, die er jeweils bis 9.30 Uhr Müller vorzulegen hatte, von denen sich jedoch keinerlei dokumentarische Spuren erhalten haben.25 Mit Wirkung vom 26. Oktober 1941 wurde diese Dienststelle aufgehoben und deren Aufgaben vom Kommandostab „mit wahrgenommen“. Seitdem oblag diesem damit „sowohl die technische, als auch die sachliche Auswertung der Meldungen der Einsatzgruppen und Kommandos“.26
Die Redaktion der EM erfolgte also von Anfang an – kontrolliert durch Müller – beim Referat IV A 1. Geleitet wurde es damals von SS-Sturmbannführer Josef Vogt, einem Karrierepolizisten, der bereits 1935 als Kriminalkommissar der Stapo-Stelle Düsseldorf Folter von Gefangenen gedeckt hatte, im Juni 1942 zum Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) im slowenischen Marburg/Drau (Maribor) avancierte und 1947 in Jugoslawien hingerichtet wurde.27 Bei seinem Weggang aus dem RSHA stieg SS-Sturmbannführer Kurt Lindow zu seinem Nachfolger auf, der als Vogts Stellvertreter im Referat IVA 1 jedoch gleichfalls schon seit Sommer 1941 mit den EM befaßt gewesen war.28 Als deren eigentliche Sachbearbeiter haben indes die Kriminalräte Dr. Günter Knobloch und Rudolf Fumy zu gelten. Ungeachtet einiger Unstimmigkeiten in ihren Nachkriegsaussagen erscheint Fumys Behauptung durchaus plausibel, er habe den Eindruck gehabt, „daß den örtlichen Führern im Rahmen der ihnen erteilten Grundsatzbefehle absolute Ermessensfreiheit zustand“.29
Mit dem Ersatz der EM durch die „Meldungen aus den besetzten Ostgebieten“ am 1. Mai 1942 wurde auch der Kommandostab umgestaltet. Nunmehr trat Gustav Nosske, der gerade als Chef des Einsatzkommandos 12 abgelöst worden war und im RSHA das neugeschaffene Referat IV D 5 (Besetzte Ostgebiete) übernommen hatte, an dessen Spitze. Zugleich änderte sich die personelle Zusammensetzung des Kommandostabes. Unter dem Vorsitz von Nosske tagten seitdem einmal wöchentlich die Leiter jener RSHA-Referate, die mit Sachfragen der Sowjetunion befaßt waren. Sie erhielten nunmehr von ihren Amtschefs jene Berichtsteile der Einsatzgruppen, die ihr Ressort betrafen, und erarbeiteten daraus redaktionelle Vorschläge. Nosskes Referat IV D 5, dem u. a. auch Fumy und Knobloch unterstellt wurden, nahm dann die Fertigstellung der Meldungen vor.30 Unklar bleibt dabei, ob Heydrich mit dieser Umstrukturierung lediglich ein konzeptionelles Gegengewicht zu Rosenbergs Ostministerium schaffen wollte oder aber eine echte Befehlszentrale für die besetzten Teile in der Sowjetunion intendierte und lediglich durch seinen Tod kurze Zeit später daran gehindert wurde.
Über die Zusammenstellung der EM aus dem Material, das von den Einsatzgruppen und deren Kommandos nach Berlin gesandt wurde, berichtete der damit einst befaßte Knobloch Ende der 1950er Jahre: „Aus der Flut eingehender Meldungen habe ich jeweils die interessierenden Stellen rot eingeklammert, und unsere Schreibdamen wußten genau, in welche Form diese Meldungen zu bringen seien. […] Rein inhaltlich ist kaum eine Änderung vorgekommen, da die Meldungen aus ‚geklammterten‘ Berichten stammten. Allerdings möchte ich hierzu bemerken, daß SS-Gruppenführer Müller, dem die Matrizen täglich bis 10.00 Uhr vorgelegt werden mußten, sehr oft handschriftliche Änderungen auch sachlicher Natur vornahm. […] Ich halte es aber für ausgeschlossen, daß er an Standorten, Zahlen, Daten und Bezeichnungen der Einsatzgruppen oder -kommandos etwas geändert hat.“31 Daß diese Aussage nur bedingt richtig sein kann, ist oft lediglich anhand mühevoller quellenkritischer Prüfungen nachvollziehbar. Wo aber etwa große inhaltliche Sachkomplexe einer Einsatzgruppe dem jeweiligen ‚Schwesterverband‘ zugeschrieben werden, wird für den Fachmann der redaktionelle Eingriff offensichtlich. Ein Beispiel: In der EM 86 erfolgt eine lange der Einsatzgruppe C zugeordnete Schilderung zur „Lage des Volksdeutschtums in der bisher befreiten Ost-Ukraine“. Anhand der im Bericht genannten Orte wird aber schnell ersichtlich, daß dieser Sequenz ein Rapport der Einsatzgruppe D zugrundelag (zumal deren Chef Ohlendorf auch noch namentlich erwähnt wird), während die Berliner Redaktion der EM feststellte: „Meldungen der Einsatzgruppe D liegen nicht vor.“32 Dies mag ein Exempel dafür sein, wie schnell und deswegen auch fehlerhaft die Auswertung der Berichte erfolgen mußte. Irrtümer, bis hin zur fälschlichen Namensnennung des eigenen Führungspersonals, waren so quasi vorprogrammiert.33
Knoblochs Referatskollege Rudolf Fumy äußerte sich 1948 weniger dezidiert zur Frage der Korrektheit der EM und verwies auf Fehler, wie sie „bei der notgedrungenen Flüchtigkeit der redaktionellen Arbeit nicht zu vermeiden waren“. Einig waren sich die beiden ehemaligen RSHA-Funktionäre in der Feststellung, daß inhaltliche Eingriffe Müllers darauf abzielten, wie Fumy es ausdrückte, beim Leser den Eindruck zu erhärten, „daß die gesamte geschilderte Tätigkeit auf Rechnung der Sipo und des SD komme“, was zur Folge hatte, daß andere Instanzen selbst dann nicht genannt wurden, wenn ihre Meldungen über ‚Querverbindungen‘ ins RSHA gelangten und dort mit in die EM eingearbeitet wurden.34 Bestandteil der interessengeleitet verzerrten Darstellung war demnach auch die Unvollständigkeit der EM bei der Abbildung besatzungspolitischer Realität. Oft fehlt der Hinweis auf einschlägige Ereignisse in den Berichtszeiträumen – etwa die gerade in der Anfangsphase noch erheblich opferreicheren Massenerschießungen, die Polizeibataillone und Verbände des Kommandostabes Reichsführer-SS vornahmen35 –, wobei unklar bleibt, ob dies Folge der Beschränkung auf den Kernbereich des eigenen Aufgabenkreises, der bewußten Ausklammerung von Aktionen der Konkurrenzinstanzen Ordnungspolizei und Waffen-SS oder lediglich Resultat von mangelhaftem Informationsfluß war.
Beschränkte sich die Tätigkeit der RSHA-Bürokraten nach Empfang der Meldungen aus dem Osten wirklich nur darauf, einzuklammern, was nach den Vorgaben Müllers wichtig schien? Zur Beantwortung dieser Frage eignen sich jene EM, für die es Entsprechungen in anderen Sipo- und SD-Dokumenten gibt. Das gilt etwa für einen Bericht des Leiters der Stapo-Stelle Tilsit, SS-Sturmbannführer Hans-Joachim Böhme, vom 1.