Konfessionelle Beliebigkeit und Konversion aus Kalkül sind Vorwürfe, die auch aus späteren Werken IngemannsIngemann, Bernhard Severin herauszulesen ist. So weist Mogens Brøndsted darauf hin, dass die Konversion zum Christentum, wie sie „Heinrich Heine og konsorter [Heinrich Heine und Konsorten“] (Brøndsted 2007b: 16) vollzogen haben, von Ingemann in seinem Drama Renegaten [Der Renegat; 1838] (1853a) kritisch karikiert wird. „Derimod havde Ingemann respekt for den gammeljødiske ånd, som det ses af fortellingen ‚Den gamle Rabbin‘ [Hingegen hatte Ingemann Respekt vor dem altjüdischen Geist, wie an der Erzählung ‚Den gamle Rabbin‘ zu sehen ist]“ (Brøndsted 2007b: 16). Doch dieser „altjüdische Geist“ ist ein Phantasma, der einer christlichen Wunschvorstellung vom Judentum entspringt. Die Texte Ingemanns schreiben sich in die vorherrschende Religionsauffassung der deutschen Romantiker ein, wie der Germanist Wolf-Daniel Hartwich in seiner Monografie Romantischer Antisemitismus (2005) dargelegt hat:
Die Romantiker beklagen in der Gegenwart den allgemeinen geistig-religiösen Niedergang der westlichen Kultur durch ihre Säkularisierung, Kapitalisierung und Industrialisierung. Das Judentum habe diesen Prozeß nicht bewirkt, fördere diesen aber und profitiert [sic!] von ihm. Die romantische Apokalyptik vollzieht keine dualistische Konfrontation mit dem Judentum. Vielmehr wird in der jüdischen Überlieferung selbst[,] als der ältesten göttlichen Ursprungs[,] das genetische Potential der Erlösung gesehen. Die jüdische Urgeschichte wird dabei in die christliche Kunstreligion transformiert. (Hartwich 2005: 27)
Neben den opportunistischen Juden dieser Novelle sind es also einzig Philip Moses und Benjamine, die eine aufrichtige Nähe zu Gott und damit „das genetische Potential der Erlösung“ repräsentieren. In ihren Figuren verschränken sich Konzepte von Religiosität, Geschlecht und Alter hierarchisch: Während Philip Moses’ Handeln stets auf Gott bezogen ist, ist Benjamine mit ebensolcher Innbrunst auf ihren Großvater bezogen. Während Philip Moses Gott gegenüber absolut loyal ist, ist Benjamine ihrem Großvater gegenüber vollkommen loyal. Doch bietet die Novelle Benjamine noch einen anderen religiösen Weg an, der sie zunächst in große Gewissensnöte bringt: den jungen christlichen Maler Veit.
2.3.3 Ankommen: Im Hause der guten Christen
Veit hat seinen Weg als Sohn des Hausarztes in die Familie von Isaak gefunden und unterrichtet dort als „Tegnemester; men hvad der drog ham did var især Benjamines skjønne Ansigt, der havde et særdeles Interesse for ham som Kunstner [Zeichenmeister; doch was ihn dorthin zog, war insbesondere Benjamines schönes Gesicht, das für ihn als Künstler von besonderem Interesse war]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 112). Auch ihr gibt er hin und wieder Zeichenstunden und steht nun, während Philip Moses in einem Sessel in der Ecke sitzt,
ved Vinduet og talte med Benjamine om den gamle ærværdige Bedstefader, som han strax havde bemærket og hilset med den Ærbødighed, hans Alder og ædle Udseende opvakte, og over hvis skjønne patriarkalske Oldingshoved han ret havde glædet sig. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 112)
am Fenster und sprach mit Benjamine über den alten ehrwürdigen Großvater, den er sogleich bemerkt und mit der Ehrerbietung gegrüßt hatte, wie sein Alter und edles Aussehen es verlangten, und über dessen schönes patriarchalisches Greisenhaupt er sich recht gefreut hatte.
Als einziger der Hausgäste begegnet Veit ihm mit Freundlichkeit und Wärme und empfindet ihm gegenüber schnell eine ebenso große Zuneigung wie gegenüber Benjamine. Das Fenster, an dem er mit Benjamine steht, fungiert hierbei als Erkenntnismetapher, die den jungen Maler gegenüber den anderen Gästen, die sich in der Tiefe des Raumes befinden, aber auch gegenüber Philip Moses, der allein in einer Ecke sitzt, auszeichnet.
Als Philip Moses und Benjamine auch das Haus des zweiten Sohnes verlassen, weil Philip Moses die Kälte und Respektlosigkeit dort nicht mehr erträgt, und Benjamine „fulgte grædende efter ham [ihm weinend folgte]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 114), erweist sich Veit als ihr Retter. Er schützt sie vor weiteren judenfeindlichen Übergriffen durch gewaltbereite Christen und bringt sie in das Haus seines Vaters, wo Philip Moses noch auf der Türschwelle zusammenbricht und in ein langes Fieber und einen tiefen Schlaf fällt. Die Türschwelle zum Haus des Christen ist ein Ort des symbolischen Übergangs, den Benjamine vollziehen kann, den Philip Moses jedoch nur in einem ambivalenten Zwischenzustand passiert. In dieser körperlich-geistigen Übergangssituation verbleibt er lange Zeit. Oft schreckt er aus seinen Fieberfantasien hoch, „hvori han ofte med Job forbandede sin Fødselstime og med Propheterne saae sit ulykkelige Folks Undergang og Jerusalems ødeleggelse [in denen er oft mit Hiob seine Geburtsstunde verfluchte und mit den Propheten den Untergang seines unglücklichen Volkes und Jerusalems Zerstörung vorhersah]“ (Ingemann 2007: 115). Seinen hiobgleichen Qualen begegnet Benjamine, in dem sie an seinem Bett sitzt und betet oder ihm aus der Bibel vorliest. Die Worte der Heiligen Schrift beruhigen den Kranken, ohne dass ihm jedoch bewusst ist, dass es sich um die Evangelien handelt. Benjamine selbst ist von den Worten tief bewegt und geht aus der Krankheitsphase ihres Großvaters als ‚Seelenchristin‘ hervor.1 Während für Philip Moses Veits Haus Symbol für ein Übergangsstadium zwischen Leben und Tod, zwischen Judentum und Christentum, zwischen Tod und Ewigem Leben bleibt, wird es Benjamine, deren Leben bisher durch Rastlosigkeit und Unzugehörigkeit gekennzeichnet war, zur geistigen und geistlichen Heimat.
Veit, der Künstler, und sein Vater, „den gamle Doctor Veit [der alte Doktor Veit]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 116), bieten Benjamine und Philip Moses erstmals in der Novelle einen sicheren und geschützten Raum, aus dem sie nicht gewaltsam ausgeschlossen werden. Veits Vater tritt in der Novelle jedoch kaum weiter in Erscheinung. Als Arzt ist es sein Beruf und seine Berufung zu helfen, so dass sein freundliches Handeln gegenüber Philip Moses und Benjamine keiner weiteren Begründung bedarf.2 Der junge Maler Veit vor allem ist es, dessen Handeln als wahrer Christ in die Zukunft weist. Das Gebot der Nächstenliebe wird als christliches Alleinstellungsmerkmal inszeniert, das nun, da es den beiden jüdischen Figuren endlich entgegengebracht wird, zwangsläufig zu deren Konversion führen wird. Im Wechsel mit Benjamine wacht Veit am Bett des kranken Juden. Anders als Philip Moses redet er nicht nur von Gott, sondern handelt nach göttlichem Gebot. Somit werden in diesen beiden Figuren zwei religiöse Konzepte einander gegenübergestellt: starres Wort vs. gute Tat. Bereits in der Figurenkonstellation ist festgelegt, welches Konzept hier das zukunftsweisende ist. Der Text macht das Judentum als ein krankendes religiöses Prinzip aus. Es ist zwar als Vorläuferreligion des Christentums inszeniert, wird aber zugleich totgesagt. Denn für Benjamine stellt das mit der Figur des Philip Moses verbundene Prinzip keine Zukunftsperspektive dar. Weder ihr verwandtschaftliches Verhältnis zu ihrem Großvater noch dessen Form der Religiosität weisen Benjamine einen Weg in die Zukunft. In Veit hingegen vereinen sich das Versprechen einer bürgerlichen Ehe samt Nachkommenschaft und das Versprechen auf religiöse Erlösung. Der Erfüllung dieses Zukunftsversprechens stehen jedoch die tiefe Religiosität des Rabbiners und die Loyalität der Enkelin zu ihrem Großvater im Weg. Denn er erfasst die Botschaft des Evangeliums zunächst nicht. Sein ambivalenter