Aber Förnheim schien das nahezu auszuschließen. Jedenfalls schüttelte er energisch den Kopf - bemerkenswerterweise annähernd synchron zu Dr. Wildenbacher. „Nach allem, was man über den Stecher in unserem Archiv abrufen kann, ist er hier im Zusammenhang mit Morden gebracht worden, die im Dunstkreis krimineller Banden geschehen sind“, sagte Wildenbacher. „Ihm werden einige Dutzend Auftragsmorde zur Last gelegt.“
„Eins verstehe ich allerdings nicht“, bekannte ich. „Die Sache mit der Säure. Wie passt das mit der Vorgehensweise des Stechers zusammen?“
„Überhaupt nicht“, mischte sich Lin-Tai Gansenbrink ein. „Ich hatte bisher nur für eine Kurzanalyse der Fälle Zeit, die dem Stecher angelastet werden.”
„Und wie ist hier das Ergebnis?”, fragte ich. Wenn Gansenbrink von einer Kurzanalyse sprach, dann war die oft profunder als das, was andere nach einer langen Beschäftigung mit dem jeweiligen Problem zuwege brachten. Sie hob die Augenbrauen.
„Ich meine, der Tatablauf, der sich aus den bisherigen Erkenntnissen ergibt, macht meines Erachtens überhaupt keinen Sinn. Da wird jemand mit einer Giftnadel angerempelt, stirbt in angemessenem zeitlichen Abstand, so dass der Täter von Zeugen gar nicht mehr in einen zeitlichen Zusammenhang mit dem Tod des Betreffenden gebracht werden kann, aber anschließend sucht derselbe Killer sein Opfer noch mal auf und sorgt dafür, dass es nicht mehr identifizierbar ist.”
„Das könnten ein oder mehrere Komplizen getan haben”, erklärte Rudi.
„Dem Täter ist es offenbar nicht unwichtig, dass man ihn als den Stecher identifiziert”, sagte Gansenbrink. „Sonst hätte er ein Gift verwenden können, was schon nach kurzer Zeit nicht mehr nachweisbar wäre, und vor allem hätte er dann nicht eine so speziell designte Substanz verwendet, die direkt auf ihn hinweist.”
„Er ist ein Profi und will seine Handschrift hinterlassen, damit man ihn wieder engagiert”, glaubte Rudi und lag damit vermutlich richtig.
Gansenbrink stimmte dem zu.
„Sie haben recht, Rudi. Allerdings widerspricht die anschließende Säurebehandlung des Opfers tatsächlich vollkommen der bisherigen Vorgehensweise des Stechers.”
„Möglicherweise war es bei diesem Mord für den Auftraggeber von besonderer Bedeutung, dass die Identität des Opfers so lange wie möglich unbekannt ist”, vermutete Rudi.
„Die andere Möglichkeit wäre, dass es sich bei dem Täter nicht um den Stecher handelt, sondern um jemanden, der nur sein Gift benutzt - was aber äußerst unwahrscheinlich ist”, meinte Förnheim. „Die Herstellung ist sehr speziell. Es wäre allenfalls denkbar, dass er es aus derselben Quelle bezieht, was ich nicht glaube, da diese Quelle ein zu großes Risiko wäre.”
„Dann denken Sie, der Stecher hat es selbst hergestellt?”, fragte ich.
Förnheim nickte.
„Davon bin ich überzeugt. Wir suchen jemanden mit profunden chemischen Kenntnissen. Er hat vielleicht ein Studium in diesem Bereich absolviert oder mal für ein gewisse Zeit in der chemischen Branche gearbeitet.”
„Jedenfalls ist das der erste Mord des Stechers seit fünf Jahren”, sagte Gansenbrink.
„Der Erste, von dem wir wissen”, schränkte Förnheim ein.
„Jedenfalls scheint in diesem Falle einiges anders gelaufen zu sein, als bei den bisherigen Morden, die mit dem Killer in Verbindung gebracht werden”, ergriff Gansenbrink wieder das Wort. „Das mit der Säure ist noch nachvollziehbar - wenn auch quasi die Brachialmethode. Es wäre sicherlich leichter gewesen, das Opfer an einem Ort zu entsorgen, wo die Leiche mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahrzehnten nicht gefunden wird. Aber den Kerl in den Trümmern eines vom Sturm zerstörten Hauses zu platzieren, in der Hoffnung, dass man ihn den Orkan-Opfern zuordnet und nicht genauer nachschaut, erscheint mir schon reichlich naiv.“
„Sagen Sie das nicht!“, widersprach Wildenbacher. „Was glauben Sie, was ich schon alles für Mordopfer auf dem Obduktionstisch liegen hatte, bei denen irgendein Wald- und Wiesenarzt ein Herzversagen diagnostiziert hat, obwohl der Betreffende eindeutige Einstichstellen am Körper aufweist, die auf eine Messerattacke hinweisen. In diesem Fall war es ja nur ein sehr kleiner Einstich einer Injektionsnadel - und den haben die Kollegen in Wilhelmshaven auch sofort entdeckt.”
„Ich denke, Gerold und ich werden kaum umhin kommen, selbst nach Wilhelmshaven zu fahren, um uns die Original-Leiche genauer anzusehen und außerdem noch einmal sämtliche anderen Spuren, die gesichert werden konnten”, sagte Förnheim.
„Ich habe eine Analyse von verdächtigen Transaktionen eingeleitet, die möglicherweise Hinweise auf besondere Entwicklungen innerhalb krimineller Vereinigungen geben könnten”, meldete sich nun Charlotte Ferretz zu Wort. Sie wandte sich dabei an Dr. Lin-Tai Gansenbrink. „Dabei werde ich sicherlich noch des Öfteren Ihre Unterstützung benötigen, Lin-Tai.”
„Auf die können Sie sich verlassen, Charlotte”, versprach Gansenbrink, ohne dass sich dabei in ihrem Gesicht irgendeine Regung zeigte.
„Es gab in der Vergangenheit Transaktionen über eine gewisse Bank in Deutschland bis zu den Cayman-Islands, die von damals ermittelnden Kollegen mit der Bezahlung des Stechers in Verbindung gebracht wurden, ohne dass dies jemals wirklich bewiesen werden konnte”, fuhr Charlotte Ferretz fort. „Wenn wir nach Transaktionen suchen, die nach einem ähnlichen Muster erfolgen, bringt uns das vielleicht weiter.”
„Was dies betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob die Definition der Muster tatsächlich schon optimal ist. Da stehen wir noch ganz am Anfang und werden mit Sicherheit noch nachjustieren müssen.“
„Was Sie ja wohl nicht vor unüberwindbare Hindernisse stellen dürfte“, meinte Förnheim.
„Sicher nicht”, sagte Charlotte Ferretz.
„Ich denke, wir müssen die Sache etwas systematischer angehen”, erklärte Gansenbrink.
„Ach, das heißt, dass alles, was bisher geschehen ist, in Ihren Augen mehr oder minder unsystematisch war?”, fragte Förnheim etwas pikiert.
„So hart würde ich das nicht ausdrücken”, antwortete Gansenbrink - höflich und kühl, wie es ihrer Art entsprach. „Nur fürchte ich, werden wir die Identität des Opfers nicht schnell genug ermitteln, wenn wir nicht einen besseren Ansatzpunkt finden.”
„Auf den Röntgenbildern, die mir geliefert worden sind, ist zu sehen, dass die Zähne offenbar von der Säurebehandlung nicht allzu viel in Mitleidenschaft gezogen worden sind”, stellte Wildenbacher fest.
„Na, das ist doch etwas, worauf sich aufbauen lässt”, meinte Gansenbrink. „Gibt es da irgendwelche Auffälligkeiten?”
„Der Tote hatte eine Reihe aufwändiger Implantate. Ich würde sagen, man kann schon mal sagen, dass er gut versichert und zumindest nicht arm war.”
„Es müsste sich herausfinden lassen, wer diese Behandlung durchgeführt hat.”
„Wollen Sie sämtliche Zahnärzte und Zahnkliniken in Deutschland durchchecken?”, fragte Rudi.
Gansenbrink schüttelte den Kopf.
„Nicht sämtliche. Ich werde mich zunächst auf Fälle von vermissten Personen beschränken, die in irgendeiner Form im Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen stehen. Möglicherweise ergeben sich auch Querverbindungen zu den Transaktionen, von denen gerade die Rede war. Dann dürfte man den Kreis der Personen sehr schnell eingrenzen können, die mit dem Toten aus dem Sturmgebiet identisch ein könnten.”
Förnheim wandte sich an mich.
„Sie haben sicher schon gemerkt, dass Lin-Tai eine unverbesserliche Optimistin ist.”
„Das bin ich auch”, bekannte ich. „Andernfalls kann man diesen Job wahrscheinlich auch nicht allzu lange machen.”