PARADIES 3000. Herbert W. Franke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert W. Franke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658777
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      Die Wunde schmerzt mich kaum, aber sie fängt immer wieder zu bluten an. Ich habe ein Papiertaschentuch zerknüllt und halte es in der Faust. Beim Unterricht habe ich mich zu konzentrieren versucht … ein Test – das wäre das letzte, was ich brauche. Aber die Gymnastik macht mir Sorgen. Heute kann ich auf keinen Fall mitmachen. Irgendwie muss ich mich drücken. Vielleicht verbessert sich mein Zustand bis morgen – es gibt Gerüchte, wonach Verletzungen von selbst abheilen können. Doch Definitives weiß keiner. Niemand, der sich verletzt hat und abtransportiert wurde, ist zurückgekehrt. Ich glaube, sie alle werden abberufen. Wenn ich bis morgen durchhalte, ist schon viel gewonnen. Morgen haben wir Handarbeit, und ich komme an den Kitt heran. Es müsste doch möglich sein, den Schnitt zu verkleben. Hoffentlich dreht Lil nicht durch. Heute Abend haben wir unsere Gemeinschaftsstunde. Da ist sie meist sehr aktiv. Das mochte ich sonst immer gern, aber diesmal wäre es schlimm. Vielleicht lässt sie mich ausruhen, ich bin schrecklich müde. Ich werde sie darum bitten.

      Ich bin noch so jung. Ich möchte noch nicht abberufen werden.

      Sigi ist langweilig. Ich weiß nicht, was er hat. Soll er sich doch melden! Sie sagen, es wäre nicht schlimm, abberufen zu werden. Man fühlt nichts, man spürt nichts. Lange Zeit vergeht, aber man merkt nichts davon. Tausend Jahre wie ein Tag, eine Stunde. Es ist ein Warten auf etwas Schönes. Es ist nicht einmal sicher, ob man wieder so lebt wie jetzt, niemand weiß genau, wie es ist – nur dass es wunderbar ist, das steht fest …

      Aber Sigi hat Angst. Er hat seine Wunde verklebt und behauptet, sie schmerzt ihn nicht mehr. Aber er spricht immer davon! Er denkt nach, er grübelt.

      Freilich, ich möchte auch noch nicht abberufen werden. Ich bin neunzehn und habe noch elf Jahre Zeit. Ich bin ein guter Nobü und habe noch keine Fehlerpunkte. Ich habe die besten Chancen, dreißig Jahre zu werden. Die darf ich nicht verspielen. Ob ich Sigi nicht doch melde?

      Eigentlich weiß ich nicht, warum ich es nicht tue. Einerseits bin ich wirklich verärgert. Andererseits … Ich hatte schon viele Partner, und an ihm ist nichts Besonderes. Oder doch? Ich empfinde irgendetwas für ihn, was ich noch nie gespürt habe, aber es ist mir erst jetzt bewusst geworden. Oder bilde ich mir das nur ein? Liegt es daran, dass mit Sigi jetzt einfach etwas geschehen ist, was noch kein anderer erlebt hat? Das macht ihn schwächer als die anderen, aber es bringt mich ihm auch näher. Heute, in unserer freien Stunde, sind wir mit der Schwebebahn bis an die Grenze gefahren. Sigi wollte nicht spazieren gehen – er ist matt, seine Wangen sind rot, und seine Augen trüb. Er saß in der Gondel, in sich zusammengesunken, und auf einmal hatte ich ein komisches Gefühl, als müsste ich ihn beschützen und betreuen – so wie ich das früher einmal mit Puppen gemacht habe, seinerzeit im Kinderland.

      An der Endhaltestelle stiegen wir aus und sahen durch die Glaswand hinüber zu den Kühlhallen. Riesige Blöcke sind es, und sie erstrecken sich weit in die Ferne – einer hinter dem andern. Minus hundertvierzig Grad soll die Temperatur im Innern betragen, und etwas davon merkt man selbst auf diese Entfernung. Es liegt eine Art Nebel darüber, und um die Konturen herum flimmert die Luft. Röhren aus Mattglas führen zu den Gebäuden, in gleichmäßigen Abständen bewegen sich darin die dunklen Zylinder der Tunnelbahn.

      »Wie lange bleiben sie dort?«, fragte Sigi. »Holt man sie wieder heraus? Glaubst du, dass man sie wirklich wieder herausholt?« Ich wusste gleich, wen er meinte: die Abberufenen. Bisher hatte ich nie an dem gezweifelt, was ich im Unterricht gelernt hatte, und ich hatte auch keinen Grund, daran zu zweifeln. Bisher hat alles gestimmt – der Stundenplan für den Unterricht, die angesagte Speisenfolge, das Programm des Fernsehens, der Fahrplan der Bahn. Bisher hat alles funktioniert – die Laufbänder, die Heizung, die Klimaanlage, die Lufterneuerer, die Atomsonnen. Man sagt etwas, und es geschieht. Man schützt uns, und wir sind in Sicherheit. Wir sind eine Gemeinschaft tüchtiger Nobüs, und wir sind glücklich.

      In der entspannten Atmosphäre des Mittagessens waren sie aus sich herausgegangen, hatten sich fantastische Möglichkeiten ausgemalt und sich über skurrile Utopien amüsiert. Jetzt, als die Verhandlung begann, waren sie mit einem Schlag wieder sachlich, sich ihrer Verantwortung bewusst.

      Roger Weiss stand auf. »Meine Herren, Sie haben sich davon überzeugt, dass unsere Anlagen funktionieren. Die Erfindung ist produktionsreif – sie steht Ihnen zur Verfügung. Es gibt viele Möglichkeiten des Einsatzes; bitte, entscheiden Sie sich!« Er setzte sich und angelte sich ein Glas. Er sah gleichgültig aus, als ginge ihn das Ganze nichts mehr an.

      K. L. Mouritzen, der Leiter der Kommission, ergriff das Wort. »Was Sie sagen, leuchtet mir ein«, sagte er. »Trotzdem ist zu fragen, ob der Einsatz einer solchen Methode mit unseren Grundsätzen übereinstimmt.« Er nickte dem neben ihm sitzenden Staatssekretär zu. Dieser hob den Blick nicht von seinen Notizen: »Nur zur Erinnerung: Das Gesetz der Medizin verlangt, menschliches Leben unter allen Umständen zu erhalten. Das Gesetz der Religion ist schwieriger zu umschreiben – es ist in den Regeln der Glaubenslehre zusammengefasst. Es bedingt einige unserer wesentlichen Konzeptionen. Da es die Geburtenbeschränkung untersagt, müssen wir unsere materiellen und ideellen Mittel auf immer mehr Menschen aufteilen. Die Konsequenz daraus ist das Prinzip der Reduktion: Reduktion der Nahrung, des Wohnraums, der Lebensjahre, des Lernstoffs … Im Moment sind wir bei drei Quadratmeter Bodenfläche pro Person angelangt. Die aktive Lebenszeit liegt bei dreißig Jahren. Da wir Leben unter allen Umständen erhalten, werden Normalbürger über dreißig eingefroren …«

      »… in der Hoffnung auf bessere Zeiten«, warf M. Jurubi vom Unterhaltungsdezernat süffisant ein.

      »Es ist nicht unsere Aufgabe zu hoffen«, sagte der Staatssekretär, »sondern Leben zu erhalten. Und das geschieht …« Er hatte den Faden verloren und blätterte nervös in seinem Notizbuch.

      »Genug!«, sagte Mouritzen. »Die Frage ist, ob sich die Direkteinspielung von Information mit unseren Grundsätzen verträgt. Bitte, Doktor Shi-Yin!«

      Der bekannte Arzt schüttelte den Kopf. »Es liegt ein Gutachten vor. Keine gesundheitlichen Schäden zu befürchten.«

      Pater Olfhus lächelte entschuldigend: »Was uns interessiert, ist die Art der übermittelten Information. Wenn keine ethischen oder moralischen Werte …«

      Mouritzen unterbrach ihn. »Das lässt sich kontrollieren. Wenn sonst keine Bedenken bestehen, so wäre zweitens zu prüfen, wer als Interessent infrage kommt.« Er blickte Jurubi an.

      »Neuen Methoden gegenüber sind wir stets aufgeschlossen. Fernsehprogramme direkt ins Bewusstsein senden … warum nicht? Damit bieten sich ganz neue Gestaltungsmittel an: gezielte Auslösung von Emotionen, gesteuerte Enthemmung …«

      R. Papoussot, Dezernat Unterricht, nutzte ein Stocken in Jurubis Ausführungen aus: »Wozu Enthemmung? Viel wichtiger sind die Vorteile für Unterricht und Erziehung. Mit dem neuen Mittel gelänge uns die Übertragung des Lehrstoffes weitaus rascher als bisher. Wir könnten die Lernzeiten weiter reduzieren.«

      Delgado, der Sozialstratege, schüttelte den Kopf. »Haben Sie die Kosten der Umstellung berechnet? Wir brauchen Millionen neuer Anlagen, die alten müssten verschrottet werden. Bedenken Sie weiter die sozialen Folgen, die eine solche Umstellung nach sich ziehen würde – alle Organisations- und Zeitpläne wären über den Haufen geworfen. Wir hätten mehr Freizeit, und Freizeit schafft Unruhe. Wir können uns keine Unruhe leisten.«

      »Das sind zwei gewichtige Einwände«, sagte Mouritzen. »Zweifellos sind die Möglichkeiten, die die neue Methode bietet, faszinierend. Aber sie ist ihrer Zeit voraus. Vielleicht später … Ich glaube, vorläufig müssen wir auf den Einsatz verzichten. Ich danke Ihnen.«

      Was soll ich tun? Während unserer Gemeinschaftsstunde lag Sigi auf der Couch und bewegte sich kaum. Er spricht selbst davon, sich zu melden, aber jetzt bin ich es, die ihm abrät. Jetzt, wo er mir eigentlich mehr Ärger macht als irgendjemand je zuvor, kann ich mir nicht mehr vorstellen, ihn zu verlieren. Mit einem Papiertaschentuch trockne ich seine Stirn, auf der sich immer wieder Schweiß ansammelt.

      Unter dem Klebeverband hat sich die Wunde entzündet. Sie blutet nicht mehr, aber die Hand ist dick geschwollen. Sie muss ihm höllische Schmerzen bereiten. Ich habe fünf Dosen StimuCola in unsere Kabine