Eigenart
Man merkt den in diesem Buch abgedruckten Texten an, dass sie an einem besonderen Ort entstanden sind. Wahrscheinlich sage ich nicht zu viel, wenn ich behaupte, dass sie zum größten Teil weder entstanden wären noch ihre geistliche Tiefe gewonnen hätten, wenn Dietrich Bonhoeffer nicht verhaftet worden wäre. Die Texte stellen ein einzigartiges Stück Auseinandersetzung ihres Verfassers mit der für ihn vollkommen neuen und ungewohnten Lebenssituation im Gefängnis dar. Gleichzeitig gewähren sie einen Einblick in die äußere und innere Entwicklung, die Bonhoeffer in dieser Zeit durchgemacht hat. Die im Gefängnis verfassten Texte boten ihm in ihrer Unterschiedlichkeit – es handelt sich um Gebete, Gedichte, Predigten, Meditationen, Artikel, Berichte, ein Dramen- und ein Romanfragment, einen Buchentwurf und vor allem Briefe – die Möglichkeit, sein Erleben zu verarbeiten. Das gilt grundsätzlich für alle Textgattungen. In besonderer Weise trifft das für die Gedichte zu. Es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass ein Theologe die übliche sachlich-rationale wissenschaftliche Prosa mit der deutungsoffeneren und emotional berührenden Poesie vertauscht. Offensichtlich erlaubte die Gedichtform Bonhoeffer, seine Gefühle in Worte zu fassen, die er sich sonst weder zugestanden noch verbalisiert hätte.
Die beiden ersten erhaltenen Gedichte „Vergangenheit“ und „Glück und Unglück“ geben z. B. das Ringen Bonhoeffers wieder, emotional wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Im Gedicht „Nächtliche Stimmen“ setzt Bonhoeffer sich mit dem Leben innerhalb des Gefängnisses auseinander. „Wer bin ich?“ reflektiert die Spannung zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung angesichts des Gefängnisalltags. Das Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ lässt sich als komprimierte Deutung der Biografie seines Verfassers verstehen. Auch die Gedichte „Der Tod des Mose“ und „Jona“ stellen den Versuch dar, den bevorstehenden eigenen Tod geistlich zu deuten, d. h. ihm einen Sinn abzugewinnen und so mit ihm fertigzuwerden. Mit dem Gedicht „Der Freund“ hat Bonhoeffer sich darüber Rechenschaft gegeben, welche Bedeutung die Freundschaft zu Eberhard Bethge für sein Leben besaß. In „Christen und Heiden“ versucht der Theologe Bonhoeffer, seine neuen wissenschaftlich-theologischen Erkenntnisse in eine dichterische Form zu bringen. Im letzten erhaltenen Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ – Abschluss und Krönung seines dichterischen Schaffens – deutet der Dichter sein eigenes Leben im Licht der anbrechenden Ewigkeit.
Neben die Gedichte treten Predigten und Meditationen, das „Kerngeschäft“ eines Pfarrers, der Bonhoeffer spätestens seit Antritt einer Auslandspfarrstelle in der deutschen evangelischen Gemeinde in London 1933 hauptamtlich geworden war. Hierher gehört die berühmt gewordene Traupredigt aus der Zelle, die Bonhoeffer zur Trauung seines Freundes Eberhard Bethge und seiner Nichte Renate, geb. Schleicher, im Mai 1943 verfasst hat. Auch die ein Jahr später entstandenen Gedanken zum Tauftag von Bonhoeffers Großneffen Dietrich Wilhelm Rüdiger, dem Sohn von Renate und Eberhard Bethge, wurden von der Familie immer als eine Art Taufansprache und nicht als theologische Abhandlung verstanden. Zu der Gattung Predigt bzw. (Predigt-)Meditation gehören auch Bonhoeffers Andachtshilfen zu einer Reihe von Herrnhuter Losungen und Lehrtexten, die er aus Freude über die Bibelworte verfasste, bzw. um Bethge die Vorbereitung von Andachten zu erleichtern.
Schließlich kommen drei Texte zum Abdruck, die der traditionellen Gattung theologisch-wissenschaftlicher Prosa am nächsten kommen: der Rechenschaftsbericht „Nach zehn Jahren“, verfasst für die Mitverschwörer im Kampf gegen Hitler nach einem Jahrzehnt Nazi-Diktatur, die Fragment gebliebene „Ausarbeitung über die erste Tafel der zehn Worte Gottes“, eine theologische Auslegung des ersten Teils der Zehn Gebote, und der „Entwurf für eine Arbeit“, eine fragmentarische Skizze für ein theologisches Buch, in dem Bonhoeffer Überlegungen zur Erneuerung der Kirche nach dem Kriege vorlegen wollte.
Diese Variationsbreite von Textgattungen (zu den bereits genannten Gattungen kommen noch Eingaben im Vorfeld des Prozesses und im Hinblick auf Verbesserungen des Gefängnisalltags und Zettelnotizen) steht in einem auffälligen Kontrast zu der Tatsache, dass ihr Autor im Dritten Reich Schreibverbot erhalten hatte. Bonhoeffer bewegte sich mit seinen literarischen Arbeiten also nicht nur in der Illegalität, sondern musste selbstverständlich davon ausgehen, dass sie erst nach dem Ende Hitlerdeutschlands eine Chance auf Veröffentlichung und damit Rezeption durch die kirchliche bzw. gesellschaftliche Öffentlichkeit besaßen. Ein weiterer Hinweis darauf, dass Bonhoeffer die Texte zunächst einmal für sich selber schrieb.
Bedeutung für heute
Als Dietrich Bonhoeffer von den Nationalsozialisten am 9. April 1945, also unmittelbar vor Kriegsende, im bayerischen KZ Flossenbürg hingerichtet wurde, war er gerade 39 Jahre alt. Dennoch ist er heute der im In- und Ausland wohl bekannteste und meist zitierte deutsche Theologe des vergangenen Jahrhunderts. Seine Faszinationskraft gerade unter der jüngeren Generation ist ungebrochen. Ursache dafür ist einerseits Bonhoeffers Glaubwürdigkeit: Er hat sein Leben für seine Überzeugung eingesetzt. Zum anderen ist es der spirituelle Gehalt der im Gefängnis entstandenen Texte, der sie bis heute aktuell sein lässt. Schließlich hat auch Bonhoeffers theologische Suche nach einer neuen Sprache, seine Forderung nach einer „nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe“, angesichts von zunehmender Säkularisierung und Entkirchlichung nichts an Bedeutung eingebüßt.
Dietrich Bonhoeffers Worte besitzen bis heute Autorität, weil er für das, was er sagt, mit seiner ganzen Existenz einstand. Es ist viel, wenn das von einem Menschen gesagt werden kann, erst recht dann, wenn ihm das Nachteile bringt – bis hin zu Verhaftung, Gefängnis, Folter und Tod.
Dabei gewann der Gefängnisort für Bonhoeffer in spiritueller, theologischer und menschlicher Hinsicht wesentliche Bedeutung. Schon bei den Wüstenvätern im 4. Jahrhundert spielte das Bleiben in der Zelle für das geistliche Leben eine herausragende Rolle.12 Die Zelle sollte den Mönch lehren, nicht vor sich selbst davonzulaufen, sondern auch die problematischen Seiten des eigenen Charakters wahrzunehmen und in reifer Weise mit ihnen umzugehen. Es lag angesichts des erzwungenen Zellenaufenthalts im Gefängnis für Bonhoeffer nahe, Parallelen zum freiwilligen Leben in einer Mönchszelle zu ziehen. Tatsächlich führte er in seiner Gefängniszelle einen geistlichen Kampf, der in mancher Hinsicht an den Kampf des Antonius von Ägypten mit den Dämonen erinnert.13 Antonius war der erste christliche Mönch überhaupt. Wie für Antonius stellt sich auch für Bonhoeffer der geistliche Kampf in seiner Gefängniszelle wesentlich als Kampf mit verführerischen Gedanken, speziell mit der Macht der Erinnerungen dar. Bonhoeffer erkennt: „Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude.“14 Dadurch wird er fähig, im Gefängnis ohne Bitterkeit über unerfüllte Wünsche zuversichtlich in der Gegenwart zu leben.
Im Brief an Eberhard Bethge vom 22.12.1943 schreibt Bonhoeffer, dass er in der „Imitatio Christi“ des Thomas von Kempen den Rat gefunden hätte: „Custodi diligenter cellam tuam, et custodiet te“ – „Halte treu Wacht über deiner Zelle, und sie wird Wacht halten über dich.“15 Der Bonhoeffer-Biograf Ferdinand Schlingensiepen sieht darin den Grund, warum Bonhoeffer sich in dieser Zeit morgens und abends zu bekreuzigen begann.16 Vielleicht muss diese Erklärung noch erweitert werden. Bonhoeffer versuchte seit der Entdeckung der Bergpredigt als konkreter Lebensanweisung