Die Machtfalle. Volker Kessler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Volker Kessler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783765575013
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überschreitet, gelegentlich seine Macht missbraucht, oder ob er machtsüchtig ist, genauso wie es ein Unterschied ist, ob man gelegentlich zu viel Alkohol trinkt oder ob man alkoholsüchtig ist. Damit soll der gelegentliche Missbrauch nicht beschönigt werden. Es ist jedoch wichtig, den Unterschied zu sehen. Mancher, der in Leitungsverantwortung steht, überschreitet im Eifer des Gefechts seine Kompetenzen. Ich (Volker) habe Entscheidungen getroffen, von denen mir im Nachhinein bewusst wurde, dass ich sie mit anderen hätte absprechen müssen. Als ich darauf angesprochen wurde, tat mir dies leid und beim nächsten Mal hielt ich vorher Rücksprache.

      Persönlichkeit ist die Art und Weise, wie jemand die Dinge gewöhnlich sieht, wie er normalerweise zu anderen Menschen steht und mit ihnen umgeht. Hin und wieder jemanden zu manipulieren oder eine Situation unlauter zu beeinflussen, macht noch keine manipulierende Persönlichkeit aus. Die Kontinuierlichkeit einer bestimmten Sünde wird allerdings die Persönlichkeit krank machen, wie schon Jeremia 13,23 (NLB) lehrt: „Kann ein Farbiger seine Hautfarbe wechseln oder ein Leopard sein geflecktes Fell? Genauso wenig könnt ihr auf einmal Gutes tun, nachdem ihr doch immer nur Böses getan habt.“ Wer sich daran gewöhnt hat, Macht zu missbrauchen, kann dieses Verhalten nicht einfach ablegen wie einen alten Mantel.

      Definition: Machtmissbrauch – geistlicher Missbrauch

      Machtmissbrauch liegt vor, wenn ein Mensch von einem anderen zu etwas genötigt wird, was er von sich aus nicht tun würde, und der Initiator davon einen persönlichen Vorteil hat. Dabei wird die Grenze der Persönlichkeit verletzt, was häufig gravierende emotionale und körperliche Folgen hat. Geschieht Machtmissbrauch im christlichen Kontext, ist möglicherweise auch der Glaube betroffen.7 Bei geistlichem Missbrauch werden vermeintlich geistliche Themen im Namen Gottes gegen Christen benutzt. Daher kann dieser nur im religiösen Rahmen auftreten und er verwundet das geistliche Leben der Betroffenen.8 Machtmissbrauch und geistlicher Missbrauch sind im Einzelfall deshalb so schwer zu erkennen, weil beide zumeist sehr subtil ausgelebt werden.

      Gefahren dieses Buchs

      Das Thema „Machtmenschen“ birgt drei Gefahren. Die erste Gefahr besteht darin, das Phänomen „Machtmenschen in der Gemeinde“ nicht wahrhaben zu wollen. Damit verharmlost man krankhafte Situationen. Es ist wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen, so wie der 3. Johannesbrief es deutlich benennt, dass Diotrephes „gerne der Erste sein wollte“ (siehe II.2). Wir unterhielten uns mit einem Pastor über die Probleme in seiner Gemeinde. Ein Jahr später erzählte er, dass ihm dieses Gespräch geholfen habe, seine Position in der Gemeinde klären zu können. Auf unsere Nachfrage, was genau ihm geholfen habe, antwortete er: „Ich glaube, dass das Wort ‚Machtmensch‘ gefallen ist, hat mir schon geholfen, das, was ich erlebte, richtig einzuordnen.“

      Die zweite Gefahr besteht darin, dass – zum Beispiel ausgelöst durch Bücher wie dem vorliegenden – Hetzjagden entstehen. Gewisse Leute überlegen, wer in ihrer Gemeinde wohl Machtmensch ist, und fangen an, anderen Gemeindegliedern dieses Etikett anzuheften. Eine Gemeinde hatte sich tatsächlich in zwei Lager gespalten. Beide Parteiungen waren der Meinung, die jeweils andere Partei würde Machtmissbrauch betreiben. In beiden Parteiungen wurde unser Buch „Die Machtfalle“ gelesen und dann mit dem Finger auf die andere Partei gezeigt: „Machtmensch!“ Dieses Verhalten war zwar günstig für den Buchverkauf, aber nicht in unserem Sinne. Jemanden als Machtmenschen zu bezeichnen kann selbst auch zu Machtmissbrauch führen!

      Die dritte Gefahr ist, aus erlebtem Machtmissbrauch heraus Angst davor haben, Macht überhaupt zu gebrauchen. Darauf gehen wir im Schlusskapitel ein.

      3. Macht als sozialer Prozess

      In diesem Buch geht es um „soziale Macht“, wenn also Menschen Macht über andere Menschen haben. Wir verwenden die Definition des amerikanischen Politikwissenschaftlers Robert Dahl, die uns aufgrund ihrer Kürze und Prägnanz gefällt:

      A hat Macht über B in dem Maße, wie er B dazu bringen kann, etwas zu tun, was B sonst nicht täte.9

      Dies ist eine intuitive Definition, die manchem Leser vielleicht zu einfach erscheint. Es sei bemerkt, dass man dies präziser fassen kann.10 Für die Zwecke dieses Buchs soll uns diese einfache, intuitive Definition genügen. Sie ist sehr allgemein gefasst. In diesem Sinne hat ein Vorgesetzter im Rahmen seiner Weisungsbefugnis Macht über seine Mitarbeiter, eine Lehrerin Macht über ihre Schülerschaft, Eltern Macht über ihre Kinder und wir als Autoren haben Macht über Sie als Leser und Leserin, nämlich dann, wenn wir Ihre Gedanken in eine Richtung führen, in die Sie sonst nicht gegangen wären. Allerdings können Sie sich unserer Macht über Sie leicht entziehen, indem Sie das Buch weglegen und nicht weiterlesen.

      Laut dem englischen Philosophen Russell11 ist „Macht“ der Fundamentalbegriff in den Sozialwissenschaften analog zu dem Fundamentalbegriff „Energie“ in der Physik. „Die Gesetze der sozialen Dynamik können allein“ – so behauptet Russell12 – „in Begriffen der Macht in ihren verschiedenen Formen ausgedrückt werden.“

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      Abbildung 1: Ober und Unter

      Machtbeziehungen sind ihrem Wesen nach asymmetrisch. Die Bezeichnungen „Ober“ und „Unter“ sind dem bayrischen Schafkopfspiel entlehnt und da gilt ganz klar: „Ober sticht Unter.“ Der Ober hat Macht über den Unter.

      Allerdings ist zu beachten: Auch der Unter hat Macht! Und wenn es nur die Macht ist, sich dem Machtbereich des Ober zu entziehen, zum Beispiel durch Kündigung, Austritt, Flucht oder im Extremfall durch Selbstmord, wie es die Zeloten 73 n. Chr. in Massada taten. Im Allgemeinen gilt: Der Ober hat nur Macht über den Unter, wenn dieser es zulässt. Führung existiert nur zusammen mit Gefolgschaft. „Unterordnung“ bedeutet: Ich erlaube jemandem, Macht über mich zu haben.

      Dass auch der Unter Macht hat, ist gerade im Zusammenhang mit Machtmenschen zu betonen. Viele „Opfer“ halten sich für ohnmächtig, obwohl sie es nicht sind. Sie geben die Verantwortung mit den Worten ab: „Ich kann es ohnehin nicht ändern“ und beklagen sich jahrelang über ihren Vorgesetzten, ihre Kollegen oder ihren Gemeindeleiter. Diese Menschen merken nicht, dass sie eine Wahl haben. Sie könnten zum Beispiel ihre Arbeitsstelle kündigen. Vielleicht gibt es gute Gründe, dies nicht zu tun. Aber dann entscheidet man bewusst, nicht zu kündigen. Man trifft eine Wahl und nimmt die Konsequenzen billigend in Kauf.

      Üblicherweise denkt man bei Machtmissbrauch an Machtmissbrauch von oben. Das ist wohl auch der häufigste Fall. Allerdings kann Machtmissbrauch auch von unten stattfinden. In einer Gemeindeversammlung steht ein redebegabtes Gemeindeglied auf und fordert die Gemeindeleitung heraus. Durch seine rhetorische Überlegenheit setzt sich das Gemeindeglied durch, obwohl es offiziell nicht zur Leitung gehört.

      Interkulturelle Aspekte

      Das Thema „Machtmenschen“ wird je nach Kultur sehr unterschiedlich beurteilt. Unser Verständnis davon, welches Machtverhalten wir als richtig oder falsch beurteilen, ist stark von der Kultur geprägt, in der wir aufgewachsen sind. Die erste umfangreiche Studie zu interkulturellem Management wurde 1980 von dem Niederländer Geert Hofstede veröffentlicht. Er hatte IBM-Mitarbeiter in 50 Ländern und drei Länderregionen befragt und identifizierte vier Dimensionen, um kulturelle Unterschiede zu messen. Eine davon ist die Machtdistanz, das ist nach Hofstede „das Ausmaß, bis zu welchem die weniger mächtigen Mitglieder von Institutionen bzw. Organisationen eines Landes erwarten und akzeptieren, dass Macht ungleich verteilt ist“13. Machtdistanz wird hier aus dem Blickwinkel der weniger Mächtigen beschrieben. Eine hohe Machtdistanz bedeutet, dass die weniger Mächtigen in dieser Kultur akzeptieren und zum Teil erwarten, dass Macht ungleich verteilt ist und Insignien der Macht gezeigt werden. In einer Kultur mit geringer Machtdistanz würde ein solches Verhalten der Mächtigen auf Widerstand stoßen und schnell als Machtmissbrauch angeprangert werden. Was sich ein Herrscher in Russland erlauben kann, dürfte er in der Schweiz nicht tun. Umgekehrt könnte die Schweizer Führungsmethode mit