Black and Blue. Wolfram Knauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfram Knauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783159618784
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Konzept. Er geht weit freier mit der Melodie um, nutzt Ansatz, Attack und vor allem auch das Vibrato seiner Tongebung, um das Solo zum Swingen zu bringen. Wer immer damals diese Aufnahmen hörte, muss sich bewusst gewesen sein, dass da ein Musiker heranreifte, der in eine ganz andere Richtung zielte als die doch sehr Ensemble-orientierte Musik seiner Kollegen: auf eine Musik, in der das Ganze, also die Bandleistung, genauso wie das Einzelne, das Solo der Musiker, einem dramaturgischen Gesamtziel unterlagen.

      Armstrong betonte sein ganzes Leben lang, wie stark King Oliver ihn beeinflusst habe. Die Dämpfertechnik aber beispielsweise, für die Oliver so bekannt war, fand, von wenigen frühen Ausnahmen abgesehen (Bessie Smith’s ›Reckless Blues‹ vom Januar 1925 beispielsweise), nie wirklich ihren Weg in Armstrongs Spiel. Er variierte weniger den Sound als vielmehr die Melodie.

      Armstrongs Präsenz in der Band blieb nicht ohne Folgen – auch für Oliver. Der Ältere war zwar der King, aber in den 1923 dokumentierten Aufnahmen hört man auch, dass er dem Neuen gegenüber, das Armstrong da mitbrachte, durchaus aufgeschlossen war. In ›Mabel’s Dream‹ beispielsweise, eingespielt im September 1923, spielt Oliver drei Solo-Chorusse. Jeder Chorus baut auf den davor gespielten auf, bringt etwas mehr insbesondere an rhythmischer Komplexität ins Spiel, gerät etwas stärker ins Swingen. Und während er in den beiden ersten Chorussen doch sehr nah am Thema bleibt, löst sich Oliver im letzten Chorus, in dem er darüber hinaus zum Dämpfer greift, fast auch melodisch vom Thema und färbt alles in Sound, Rhythmik und Melodik ein. Zwei Takes existieren von dieser Aufnahme, und es wird recht deutlich, wie stark sich Oliver allein in dem Dreivierteljahr, in dem die Band in Aufnahmen dokumentiert ist, durch Armstrong hat beeinflussen lassen. Übrigens gibt es noch eine dritte Aufnahme dieser Nummer vom Oktober 1923, in der Armstrongs Zweitstimme während des Oliver-Solos weitaus deutlicher zu hören ist.

      ›Where Did You Stay Last Night‹ hatte Armstrong unter dem Titel ›Wind and Grind‹ bereits in New Orleans für die Band Kid Orys verfasst. In den beiden Fassungen des ›Riverside Blues‹ ist es interessant auf die Solostimme Armstrongs zu horchen. Seine Töne sitzen nicht auf dem Beat, auch nicht synkopierend dazwischen, sondern bilden leicht vom Beat abweichende Akzente, eine Spielweise, die man gemeinhin als Off-Beat-Phrasierung bezeichnet.

      Vom Oktober 1923 schließlich stammt eine Aufnahme des ›Camp Meeting Blues‹, die aus anderem Grund jazzgeschichtlich interessant ist. Das dritte Thema des Stücks nämlich entspricht ziemlich exakt dem Thema von Duke Ellingtons ›Creole Love Call‹ von 1927. King Oliver war empört und schrieb im Oktober 1928, ein Jahr nach der ersten Aufnahme des ›Creole Love Call‹ einen Brief an die Rechtsabteilung der Plattenfirma Victor, in dem er darauf hinwies, »dass diese Nummer von mir geschrieben wurde und am 11. Okt. 1923, Nr. 570230, unter dem Titel Camp Meeting Blues zum Urheberrecht angemeldet wurde«. Oliver bekam mit seiner berechtigten Klage wegen eines simplen Formfehlers kein Recht: Die von ihm genannte Nummer der Urheberrechtsanmeldung gehörte tatsächlich zu seinem ›Temptation Blues‹; den ›Camp Meeting Blues‹ hatte er wahrscheinlich vergessen zu registrieren.

      Die Band war verständlicherweise stolz auf die von ihr eingespielten Schallplatten, und sie machte kräftig Werbung – etwa bei Straßenumzügen durch Chicago, bei denen die Band spielte und ein großes Transparent für den ›Dippermouth Blues‹ warb.60 Die Band besaß eigentlich ein großes Repertoire, hätte, wie der Schlagzeuger Baby Dodds bezeugt, ohne Probleme fünf Stunden am Stück spielen können, ohne einen Titel wiederholen zu müssen. Nach dem Beginn ihrer Plattenkarriere allerdings schränkten die Musiker das Repertoire marktgerecht ein, zum einen, weil sie auf diese Weise ihre neuen Platten promoten wollten, zum anderen, weil das Publikum eben genau nach den aufgenommenen Titeln verlangte. Viele der Stücke, die Oliver 1923 einspielte, sind Eigenkompositionen; im Lincoln Gardens mussten sie darüber hinaus sicher auch jede Menge an tagesaktuellen Schlagern spielen.

      Oliver machte nicht nur für Gennett Aufnahmen, sondern auch für andere Plattenfirmen. Die ›Dippermouth Blues‹-Straßen-Bewerbung beispielsweise galt nicht der Gennett-Aufnahme vom April 1923, sondern einer Aufnahme für das Label OKeh vom 23. Juni. Es war nicht unüblich, dass Künstler für mehrere Plattenfirmen dieselben Stücke einspielten. Exklusive Plattenverträge, mit denen Künstler an ein Label gebunden werden sollten, wurden erst später üblich. Neben OKeh und Gennett kam im Oktober noch Columbia und im Dezember das Label Paramount hinzu. Diese parallele Vermarktung bot den Musikern vor allem die Chance, mehr Platten zu verkaufen und damit mehr Geld zu verdienen. Als heutige Hörer haben wir dadurch aber auch die reizvolle Gelegenheit, Stücke in mehreren Varianten zu hören, aufgenommen in unterschiedlichen Studios und unter verschiedenen Sound- und Aufnahmebedingungen. Am ausgewogensten wirken die Aufnahmen für das OKeh-Label im Juni und Oktober; in ihnen hatte der Toningenieur auch keine Probleme, den Klang des Schlagzeugs einzufangen – der Schrecken aller Toningenieure dieser frühen Zeit. Im OKeh-›Dippermouth Blues‹ jedenfalls erahnt man auch Baby Dodds’ Tom-Toms, und im OKeh-›Working Man Blues‹ hört man leise die Becken im Hintergrund – man muss allerdings sehr genau hinhören, weil das Schlagzeug ein wenig hinter dem perkussiven Banjo-Sound verschwindet und sich daneben eher mit Holzblöcken in den Vordergrund drängt.

      Oliver war nicht der einzige Musiker, der Stücke für verschiedene Plattenlabels aufnahm; insbesondere Duke Ellington ist ein gutes weiteres Beispiel dafür. Der allerdings nutzte die meisten Neuaufnahmen für Variationen im Arrangement, stellte Solo-Reihenfolgen um oder veränderte die Orchestrierung einzelner Ensemblechorusse. Oliver dagegen behielt in diesen frühen Aufnahmen zumeist das gleiche Arrangement bei – es gehörte schließlich einerseits zu seinem täglichen Standardrepertoire und andererseits war Musikern in dieser frühen Phase der Schallplattenindustrie noch lange nicht klar, dass sie ein Dokument schufen, anhand dessen ihre Kunst auch der Nachwelt erhalten und von dieser beurteilt werden würde.

      Die Creole Jazz Band trat übrigens nicht nur in Chicago auf. Vom Frühjahr 1924 ist eine Rezension eines Auftritts in South Bend, Indiana, erhalten, die uns Teile ihres Konzertrepertoires überliefert: ›Dipple Mouth‹ (also ›Dippermouth Blues‹), ›High Society‹, ›St. Louis Blues‹, ›The Eccentric‹. Und dann wird da noch ein Duett vermerkt, das Armstrong mit Lil Hardin gespielt habe: ›Tears‹. Das Stück war 1923 von der Creole Jazz Band aufgenommen worden, um aber eine Vorstellung davon zu erhalten, wie Armstrong im Duo mit Lil geklungen haben mag, empfiehlt sich eine Aufnahme aus den 1960er Jahren, in der der Trompeter zu Hause zu der Aufnahme King Olivers spielt.61 Hier hört man ihn im Vordergrund, und auch wenn mehr als 40 Jahre ins Land gegangen waren und sich sein Stil verändert hat, ist der melodische Ansatz deutlich zu erkennen, den man ansonsten in den Aufnahmen von 1923 eher im Hintergrund erahnen muss.

      Vielleicht ist an dieser Stelle ein Vergleich mit Aufnahmen angebracht, die Freddie Keppard in den 1920er Jahren machte, ein Trompeter, der in Chicago als größter Konkurrent Olivers galt. Er war im Sunset Café mit einer zwölfköpfigen Kapelle zu hören, in der es mit ihm und dem Kornettisten Fats Williams eine ähnliche Konstellation gab wie in der Creole Jazz Band mit Oliver und Armstrong: Williams war für die Lead-Stimme zuständig und Keppard für den Jazz, also das spielerische Element.62 Keppard habe die höchsten Töne klar wie auf einer Flöte spielen können, erzählt Jelly Roll Morton und betont, Armstrong habe ihm in dieser Beziehung nicht das Wasser reichen können.63 Auf den erhaltenen Aufnahmen Keppards ist zumindest seine sichere Tongebung zu erleben, in ›Here Comes the Hot Tamale Man‹ etwa, das er im Juni 1926 in kleiner Besetzung des Orchesters von Doc Cook einspielte – einen Monat später ist die größer besetzte Fassung bereits weit weniger