Mit Sicherheit handelt es sich aber um den kuriosesten Krieg der jüngeren Geschichte. Die unbedeutenden Stimmen der Führer dieses Zwergstaates gehen unter in einem weltweiten Echo. Die unerheblichen Tatsachen, die hier geschaffen werden, werfen einen gewaltigen Schatten. Die Floskeln der Frontberichte sind überfrachtet mit historischen Anspielungen. Auf der einen Seite Heiliger Krieg und Tausendundeine Nacht, auf der anderen Seite die Bibel und die Makkabäer. Jeder Hügel oder jedes Wadi, wo heute Maschinengewehre rattern, kann bezeugen, wie in den Tagen Josuas die Sonne stillstand oder dass Christus dort ein Wunder vollbrachte. Die Wirklichkeit versinkt in Archetypen.
Es gibt aber noch einen anderen Grund für den kaum greifbaren, traumartigen Charakter der ganzen Angelegenheit. Wie in allen Träumen haben die Symbole, die im Kopf Gestalt annehmen, mehrere Bedeutungsebenen. Was wir hier erleben, ist eine Art Umkehrung dessen, was in Pompeji geschah. In Pompeji wurden Schuljungen, die gerade mit ihren Murmeln spielten, urplötzlich von der Lava erstickt, und sie erstarrten zu Monumenten. Schlagartig wurden sie von der alltäglichen auf die tragische Ebene versetzt. Alle Katastrophen haben eine ähnliche Wirkung. Sie veranschaulichen auf drastische Art und Weise die ansonsten unsichtbare Wandlung trivialer Ereignisse in historische Fakten. Denn Gegenwart ereignet sich hauptsächlich auf der trivialen Ebene, Historie hingegen immer auf der tragischen.
Der Pompeji-Effekt besteht darin, dass sich diese ansonsten allmähliche Wandlung jäh und wie unter einem Brennglas ereignete. Von Menschen gemachte Katastrophen – Kriege und Revolutionen – haben die gleiche Wirkung. Dantons erhobener Arm erstarrt mitten in der Luft zur Geste eines Bronzedenkmals. Napoleons Leber und Kleopatras Nase gehören gleichzeitig der trivialen wie der tragischen Ebene an. In den schöpferischen wie in den zerstörerischen Umwälzungen ahnen die Akteure meistens nichts von ihrer Rolle. Sie wissen nicht, wo genau die beiden Ebenen aufeinandertreffen, auf welche Weise ihre persönlichen Eigenheiten sich zu Legenden auswachsen und an welchem Punkt eine subjektive Geste zu einem Fixpunkt der Geschichte gerinnt. Menschen, die bewusst versuchen, eine solche Wirkung zu erzielen und sich auf die historische Ebene zu katapultieren, sind für gewöhnlich größenwahnsinnig oder utopieverliebte Spinner.
In diesem Land jedoch spürt jeder, dass er soeben etwas erlebt, das umgekehrt verläuft wie in Pompeji. Alle empfinden ganz deutlich, dass sie mitten in einem Lavastrom der Geschichte stecken, in dem alles, was jetzt geschieht, für die Ewigkeit bewahrt wird. Selbst die Schuljungen, die mit ihren Murmeln spielen, spüren, wie ihnen die Geister der Makkabäer über die Schulter schauen.
Bei dieser Massenproduktion historischer Fakten sorgen nicht die Proklamationen, die Reden und die selbstbewussten Auftritte der Anführer für die faszinierenden und anrührenden Episoden. Vielmehr sind es die kleinen Pannen, die sich zwischendurch ereignen, die Löcher im Mantel der Geschichte, die hastig und improvisiert gestopft werden.
Da gibt es zum Beispiel die Geschichte der Nationalflagge Israels. Sie wurde uns am Tag unserer Ankunft von einem alten Freund erzählt, dem Maler Karl Rubin (der zwischenzeitlich zum israelischen Botschafter in Rumänien ernannt wurde).
Offenbar erschien vor ungefähr einer Woche eine amtliche Anzeige in den hebräischen Zeitungen, in welcher Künstler gebeten wurden, Vorschläge für die Nationalflagge Israels zu unterbreiten. Den Teilnehmern an diesem Wettbewerb räumte man für das Einsenden ihrer Vorschläge eine Frist von achtundvierzig Stunden ein! Rubin war empört, er eilte zu der genannten Adresse und fand heraus, dass dort niemand etwas von der Flagge wusste. Er eilte zu einer zweiten und dritten Adresse und erfuhr am Ende, dass irgendjemand einen Ausschuss eingesetzt hatte, dem drei bärtige Männlein angehörten, die über die zukünftige Flagge Israels entscheiden sollten. Die drei Männlein repräsentierten jeweils die Partei der Linken, der Rechten und der Mitte, entsprechend dem System des «Parteienschlüssels», das in diesem Land heilige Tradition ist. Es sieht vor, dass in jeder öffentlichen Einrichtung und Institution alle politischen Parteien proportional zu ihrer relativen Stärke vertreten sein müssen. Rubin fand außerdem heraus, dass keines der Mitglieder dieses Ausschusses jemals in seinem Leben mit Kunst oder Heraldik zu tun gehabt hatte. Es war ihnen noch nicht einmal in den Sinn gekommen, dass bei ihrer Aufgabe ästhetische Gesichtspunkte eine Rolle spielen könnten. Eine Flagge, erklärten sie Rubin, sei eine politische Angelegenheit. Der Vertreter der Linken hatte darauf zu achten, dass nicht zu viele religiöse Symbole auf der Flagge versammelt waren. Der Vertreter der Rechten sollte verhindern, dass zu viel Rot hineinkam. Der Vertreter der Mitte hingegen hatte ihre gegensätzlichen Ansichten auszugleichen, indem er verschiedene Stücke aus den verschiedenen Entwürfen der Wettbewerber herausnahm und zu einer Art Koalitionsflagge zusammensetzte – so, wie man auf der Basis von mehreren Vorlagen eine Resolution formuliert.
Rubin verzichtete auf weitere Diskussionen und wandte sich an die Regierung, wo alle mit dem laufenden Krieg beschäftigt waren. Am Ende erreichte er, dass die Frist für den Wettbewerb verlängert wurde, und er erhielt eine vage Zusage, dass ein Künstler in den Ausschuss aufgenommen werden sollte. Da aber Künstler, wie alle Einwohner Israels, der einen oder anderen Partei angehören, würde das kooptierte Mitglied den Parteienschlüssel durcheinanderbringen – und an diesem Punkt ruht die Angelegenheit im Augenblick.12
Die zweite Geschichte verläuft in gleicher Weise. Bei einer seiner ersten Zusammenkünfte wählte der israelische Staatsrat, der als provisorisches Parlament fungiert, den altgedienten Zionisten Professor Weizmann zu seinem Präsidenten. Da Israel bisher noch keine Verfassung hat, konnten sie ihn nicht zum Präsidenten der Republik ernennen, aber es war offensichtlich, dass die Wahl genau dies beinhaltete. Dann kam die Panne, das Loch im Mantel der Geschichte. Erstens musste der neue Präsident in Abwesenheit gewählt werden (er traf erst etwa vier Monate nach der Unabhängigkeitserklärung in Israel ein). Diese etwas ungewöhnliche Situation überging man stillschweigend angesichts der heiklen Gesundheit des Präsidenten und seines ebenso heiklen Verhältnisses zu Premierminister Ben Gurion. Zweitens war da aber noch die Frage der Staatsangehörigkeit des Präsidenten. Während des britischen Mandats genügten zwei Jahre mit Wohnsitz in Palästina, um als Bürger Palästinas anerkannt zu werden. Und es galt als patriotische Pflicht eines jeden jüdischen Einwanderers, offiziell ein Bürger Palästinas zu werden. Obwohl Dr. Weizmann sich wegen seiner Pflichten als Leiter der Zionistischen Weltorganisation zumeist im Ausland aufhielt, hätte er natürlich die palästinensische Staatsangehörigkeit erwerben können, ohne dass die Mandatsbehörde Schwierigkeiten gemacht hätte. Tatsächlich aber hatte er nie darum ersucht und es vorgezogen, seinen britischen Pass zu behalten. Als dann die Frage seiner Wahl auf der Tagesordnung stand, stellte einer der beiden Mitglieder der «Revisionisten» im Staatsrat, die zur Opposition gehören, unverfroren die berechtigte Frage, «ob ein Ausländer, und noch dazu ein Engländer, Präsident Israels werden» könne. Der Justizminister Dr. Rosenblueth brummelte verlegen, er werde diesen Punkt prüfen, doch die Angelegenheit wurde geflissentlich vergessen, und die Wahl erfolgte per Akklamation.
Gestern Morgen, unser erster in Tel Aviv, wurden wir um acht Uhr von der Detonation einer Bombe geweckt, die aus einem ägyptischen Flugzeug abgeworfen worden war. Sie fiel einige hundert Meter von unserem Hotel entfernt auf den Strand, eine kleine, fünfundzwanzig Pfund schwere Antipersonen-Bombe, die keinen Schaden anrichtete, außer dass in der Umgebung ein paar Schaufenster zu Bruch gingen. In Erinnerung an die V1- und V2-Angriffe auf London betrachteten wir die Lilliput-Bomben in diesem Lilliput-Krieg eher snobistisch. Dennoch waren eine Woche zuvor an einer Bushaltestelle einundvierzig Menschen während eines Luftangriffs getötet worden – deutlich mehr als die durchschnittliche Anzahl an Opfern, die einer einzelnen der etwa hundert Mal schwereren Bomben auf London zum Opfer fielen.
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