Gabriele drückte sich im Schlafzimmer neben der hohen Kommode an die Wand, sie sollten vorbeilaufen und sie nicht sehen, ihr klopfte das Herz. Sie nahten denn auch, nach ihr rufend, sie machten die ganze Runde nochmals.
Nur Leutnant von Kessel nicht, er blieb zurück, er hatte sie entdeckt. »Gabriele!« stammelte er in der Überraschung. Aber vor ihrem tief erschrockenen Gesicht sagte er sofort: »Frau Konsul.«
Er sagte:
»Frau Konsul, ich darf nach dem Manöver nicht mehr wiederkehren, weil ich heiraten soll. Ich kann mich nicht wehren, meine Eltern wollen es. Aber ich liebe jenes Mädchen nicht.« Viel leiser: »Wie könnte ich!« Schnell schnitt sie ab.
»Das glauben Sie nur«, erwiderte sie.
Ihr Herz klopfte noch von der Überraschung. Ihre Stimme versuchte vielmehr, gnädig zu sein angesichts des romantischen Vorganges, blieb aber nicht ganz fest. Dies war nun das Erlebnis der verheirateten Frau. Sie hatte es herausgefordert, ohne an seinen Eintritt zu glauben. Jetzt war es da, war schmeichelhaft, erregte die Neugier und konnte doch immer, wer weiß wie, ausgehn.
»Haben Sie aber erst Ihre eigene Frau, ist alles andere vergessen«, sagte sie, ängstlich gespannt, ob mehr geschähe. Nun geschah aber, daß er schluchzte. Hier faßte sie sich völlig, sie ward die Überlegene, bereit, den romantischen Vorgang zu ihrem Vorteil zu lenken.
»So weit fort«, schluchzte er, »werde ich leben müssen von hier, wo ich ewig sein möchte.«
»Sie tun es für mich«, bestimmte sie. Da verklärte sich sein Schmerz.
Sie fragte:
»Möchte ich selbst denn hier sein? Ich war einstmals zu Hause noch viel weiter fort«, erklärte sie, stolz auf ihr fremdes Stück Leben, das Stück, das ihr allein gehörte. Als er wieder unruhig werden wollte, bemerkte sie strafend:
»Und Sie sind im Krieg gewesen!«
Mütterlich fragte sie weiter: »Wie alt waren Sie eigentlich im Krieg? ... Zweiundzwanzig, so alt wie ich heute. Auch jetzt sind Sie erst fünfundzwanzig, Herr von Kessel. Mein Mann fünfunddreißig, so ist alles in Ordnung. Machen Sie ein freundliches Gesicht!« Sie öffnete das Schränkchen auf der hohen Kommode.
Sie nahm aus einem Behälter den Fächer. Der Leutnant inzwischen strich mit der Hand über das schöne, glatte Möbelstück, statt über die Gestalt, die ewig unberührbar blieb. Sie fächelte ihn, denn er schien erhitzt. Dankbar und hingegeben schloß er die Augen. Da hörten sie näher als vorher die Stimme Emmys, die »Jürgen« rief.
»O Gott! Das Kind!« flüsterte Gabriele, die Faust an der Wange, aber der Unterbrechung im Grunde froh. Sie war ein unheimliches Gefühl während des ganzen Vorganges nicht losgeworden, als wäre es nicht sicher, wie sie im nächsten Augenblick sich verhalten werde ... Gottlob, der Leutnant verschwand eilends nach hinten.
Vorn auf der Steinterrasse erschien die Kusine, hatte sie ihn noch gesehen? Gabriele lief ihr entgegen. Jürgen? Der ganze Garten schon abgesucht. War denn das Kind hinausgelaufen? Gleichwohl brachte Leutnant von Kessel es fast augenblicklich zurück. Es hatte sich versteckt – wie vorhin die Mutter, sagte ihr ein Blick, der nur noch neckend war.
Schon hatte Kessel jene Trauer ganz vergessen. In seiner Art haftete sie am Ende so wenig wie bei dem kleinen Jürgen. Auch der war wegen eines Schmerzes in den Busch gekrochen. Jetzt jagten die beiden einander. Daraus wurde ein Spiel für alle. Sie erfüllten den Vorgarten mit ihren Sprüngen, ihrem Gelächter.
Plötzlich fühlten sie, jemand sehe zu.
Zweites Kapitel
Gabriele, die anhielt, weil die anderen schon still waren, unterdrückte einen Schrei. Dort stand der Schwarze über seinem Stock – die Kleidung schwarz, das Haar von schwarzer Glätte und zwischen schwarzen Backenbärten dies gelbgefärbte, teuflische Gesicht! Gleich darauf sah sie, daß es nur der Nachbar war.
»Herr Pidohn!« rief sie. »Wen stellen Sie vor?«
Der Mann nahm dies als Einladung, er öffnete die Pforte und trat ein. »Da bin ich«, verkündete er dumpf, noch in der Rolle der Schreckensgestalt.
»Komödiant!« sagte Gabriele, – worauf er lachte. Seine schwarzen Brauen trennten sich, sie schnellten an den Rändern der Stirn spitz hinauf.
»Ich fuhr spazieren ... Pidohn ist mein Name«, sagte er zu den Offizieren, denn Emmy Nissen kannte er.
»Immer fahren Sie spazieren«, hielt Gabriele ihm vor. »Hu! was Sie für einen Wagen haben.«
Eine zu große Karosse, über hohen Rädern schwankend, zog mit Ächzen auf der Straße vorüber im Trauerschritt der Pferde, die schwarz wie der Kutscher waren.
»Obwohl er nur einfach vom Lohnkutscher Pagels ist«, ergänzte Gabriele.
Emmy Nissen bemerkte:
»Natürlich sind alle Herren der Stadt um diese Tageszeit in den Kontoren. Darum ist es ausnahmsweise«, dies betont, »doch herrlich durch die Wälder zu fahren, vielleicht bis ans Meer.«
»Ich bin die Ausnahme«, verkündete Herr Pidohn. Er konnte schalkhaft die weißen Zähne zeigen. Nur der kühne Blick mußte düster weiter glänzen. Da er grade auf Leutnant von Kühn traf, fühlte Leutnant von Kühn sich verpflichtet, zu sagen, daß Spazierenfahren das Ideal sei: so unwiderstehlich wirkte der Blick.
Leutnant von Kessel, den kein Blick getroffen hatte, meinte spöttisch, unter Bäumen sei gut träumen.
»Denken!« berichtigte jener. »Spekulieren!« sagte er, schon hatte Kessel bescheiden den Atem angehalten. Der Mann aber stand nicht mehr über dem Stock, er hatte Körper und Kopf zurückgeworfen, er sprach von oben.
»Konsul West inzwischen sitzt auf seinem Schemel an der Spitze eines langen Pultes, wo noch sechs andere sitzen, und schreibt. Auf dem Exerzierplatz hingegen üben sich Leute wie Sie«, sagte er zu den beiden Offizieren, die einander ansahen, warum in aller Welt sie dies nur ruhig hinnähmen.
»Sie alle haben keine Zeit, ihr Feld ist der Augenblick. Meines –« er wuchs noch, »die Ferne.« Er wuchs. »Das Grenzenlose.«
»Weil Sie an der Börse spielen?« fragte Emmy Nissen nur wenig eingeschüchtert.
Seine Brauen verschränkten sich. »Der Spekulant kann stürzen«, entschied er. »Der Spekulant kennt die Gefahr, ihn bedrohen die Zukunft und der, dem die Zukunft gehört.«
»Wer ist das?« fragte Gabriele unschuldig.
»Sind Sie nicht Christin?« fragte Pidohn selbst ... Er wartete ihr Erstaunen ab. »Denken Sie an die heiligen Frauen, – die alle Sünderinnen waren«, sagte er anzüglich, sah aber fort. »Sie wurden groß durch das Unglück.«
Mit ungewöhnlich schöner, ernster Stimme fragte er:
»Riefen Sie das Unglück noch nie herbei?«
Da Gabriele heftig den Kopf schüttelte:
»Verleugnen Sie es nicht! Das Unglück ist mitten im strahlendsten Glück unsere heimliche Lockung. Wir wissen von ihm nicht, schon ist es unser merkwürdigster Besitz.«
Da alle ihn nur betrachteten, ward ihm wohl bewußt, daß er abweiche, ja, sich dadurch wieder einmal schade. Denn unvermittelt ward er ein Mensch wie andere, ein Börsenbesucher voll Leutseligkeit und mit gefärbtem Haar.
»Womit nicht gesagt sein soll, daß wir es schon satt hätten, zu gewinnen. Nie im Leben!«
Er lachte geräuschvoll. Zu den Offizieren besonders sagte er:
»Sieger