Dann erzählt mir Herr Lo noch, dass Tai Chi eine sehr lange Geschichte hat und bereits im 17. Jahrhundert entstanden sei. General Chen Wangting hat’s erfunden, als er verschiedene Komponenten damals bekannter Kampfsportarten verband. Schöner ist aber die Legende, nach der Tai Chi von einem taoistischen Mönch kreiert wurde. Der hatte angeblich den Kampf zwischen einer Schlange und einem Kranich beobachtet und dann einfach deren Bewegungen imitiert.
Nicht nur hinter dem Kunstmuseum trainiert man Tai Chi. Weniger unbeholfen als dort gehen die Sportler andernorts zu Werke. Fast jeder Park Hongkongs wird frühmorgens zur Übungsfläche, wenn sich die Menschen aus der jeweiligen Nachbarschaft zum gemeinschaftlichen Training treffen. Meist sind es ältere Damen und Herren, die ihre Körper geschmeidig in der Morgensonne wiegen, während die jüngeren mit dem Aktenkoffer auf dem Schoß, in der U-Bahn oder dem Bus, auf dem Weg zur Arbeit sind.
Mit fließenden Bewegungen absolvieren die Alten ihre Übungen. Auf den flügelschlagenden Kranich lassen sie die Libelle folgen, die das Wasser umarmt. Oder sie machen Übungen, die »Die Mähne des Wildpferdes teilen« und »Ein Erleuchteter berührt den Boden« heißen. Jeder Name klingt wie ein Gedicht, und so formen die Übenden im Laufe des Trainings mit ihren Körpern eine Art Geschichte.
Im Deutschen wird Tai Chi oft mit »Schattenboxen« übersetzt, was nicht unbedingt den Kern der Sache trifft, denn beim Boxen kommt es darauf an, in die Bewegungen Explosivität und Kraft hineinzulegen, während beim Tai Chi alles langsam wie in Zeitlupe abläuft.
Für die Chinesen ist Tai Chi ein Wundermittel, das auf harmonische Weise Körper, Geist und Seele verbindet. Es reguliert die Atmung, stärkt Herz, Kreislauf und Nervensystem. Und führt angeblich auch zu einer gelasseneren Stimmung, zu mehr Wohlbefinden und Entspannung. Bei mir hat das noch nicht geklappt. Aber Herr Lo wartet ja jeden Tag hinter dem Kunstmuseum. Vielleicht gehe ich morgen einfach noch mal hin.
Rasso Knoller
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