Vielseitig begabt war Beuys. Und wie in einer gutbürgerlichen Familie damals üblich, erhielt er Klavierunterricht — manchmal gemeinsam mit seiner Cousine Gertrud. Am 22. März 1931 trat er mit drei kurzen Stücken das erste Mal als Solist bei einem Schülerkonzert auf. Von 1938 bis 1941 spielte er im sogenannten Bannorchester der Hitlerjugend Cello.36 Seine musikalische Ausbildung legte den Grundstein für seine späteren Aktionen. Klavier, Flügel und Stimme waren Beuys’ bevorzugte Instrumente und die Hauptdarsteller vieler seiner Werke. In der Aktion »Sibirische Symphonie« (1963) spielte er auf dem Flügel ein selbst komponiertes Stück und eines von Erik Satie. In dem Werk »Infiltration Homogen für Konzertflügel« (1966) überzog er das Instrument mit Filz. Übrigens war Erik Satie Beuys’ Lieblingskomponist. »Manchmal kam er zu uns, und wir hörten gemeinsam Saties ›Messe des Pauvres‹«, erinnert sich Maritha Richter, die Beuys 1948 kennenlernte und in deren elterlichem Haus in Meerbusch-Büderich der Student zwei Jahre lang lebte.37
Bildende Kunst hingegen wurde im Hause Beuys wenig gefördert. Dabei gab es in der Geschichte der Familie Beuys einige Maler. Der bekannteste war Johann Heinrich Brey (1872–1960), ein regional gefragter Porträt-, Landschafts- und Kirchenmaler aus Geldern. Breys Halbschwester Theodora war die Urgroßmutter von Joseph Beuys.38 Auch in der Schule wurde Kunst unterrichtet, und Beuys’ Arbeiten waren so gut, dass er eine Serie seiner Landschaftsaquarelle im Treppenhaus des Gymnasiums aufhängen durfte. Nur eines davon, »Landschaft bei Rindern«, ist noch erhalten.39 Drei Jahre vor seinem Abitur lernte er den belgischen Bildhauer Achilles Moortgat (1881–1957) kennen, der noch ganz in der Tradition von Spätimpressionismus und Jugendstil stand.40 Beuys besuchte Moortgat von Zeit zu Zeit in dessen Klever Atelier.
Diese ersten Erfahrungen mit einem Künstler waren sicher spannend für den Schüler, doch prägend wurde für Beuys die Begegnung mit einer Skulptur Wilhelm Lehmbrucks (1881-1919) — zunächst allerdings nur als Schwarz-Weiß-Foto in einem Heftchen. Doch der Eindruck, den die Figur auf Beuys gemacht hat, muss atemberaubend gewesen sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass der Schüler in jenen Jahren von Naziarchitektur und Naziskulptur umgeben war. Lehmbrucks Skulptur war die Initialzündung für Beuys’ Beschäftigung mit Bildhauerei. Das zumindest erklärte der Künstler in seiner Rede zur Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises, die er am 12. Januar 1986, nur elf Tage vor seinem Tod, hielt. Lehmbruck gab ihm den entscheidenden Anstoß, Plastik nicht ausschließlich als dreidimensionales, festes Materialgebilde zu betrachten. Für Beuys bedeutete Plastik sehr viel mehr — und diese erste Begegnung mit Lehmbruck enthielt für Beuys bereits den Keim zu seinem »erweiterten Kunstbegriff« und seiner »sozialen Plastik«, die er seit der Mitte der 1960er-Jahre entwickelte.
Trotz Naturerlebnissen, Schülerkonzerten und Treppenhaus-Ausstellungen — Beuys’ Kindheit und Jugend waren kein Idyll. Für die Eltern war es wohl schwierig, den intelligenten Jungen mit der schnellen Auffassungsgabe nach ihren ländlich-bürgerlichen Vorstellungen zu erziehen. Beuys selbst sagte, das Verhältnis zu seinen Eltern könne man nicht als »eng« bezeichnen.41 Das scheint noch freundlich formuliert zu sein. Verwandte und enge Bekannte erzählen, dass besonders seine Mutter sehr streng gewesen sei, ihren Sohn »mit fester Hand«42 erzogen und wenig Verständnis für ihr »überintelligentes Kerlchen«43 aufgebracht habe.44 Kein Wunder, dass das Einzelkind gern bei seinen Cousinen und Cousins war. »Hier hatte er ein Stück Freiheit.«45
In der Hitlerjugend glaubte der Teenager Beuys, den Fesseln seines Elternhauses zu entkommen: »Man muss ja zugeben, dass […] damals die Situation für die Jugendlichen in gewisser Weise ideal war, um sich auszuleben. […] ansonsten fühlten wir uns frei und unabhängig«, erklärte er später pragmatisch und, wie es scheint, wenig reflektiert.46 Zwar herrschte in der Hitlerjugend militärischer Drill, zugleich förderte diese Organisation aber auch die Auflehnung der Jugendlichen gegen ihr Elternhaus. Skrupel, 1936 am Adolf-Hitler-Sternmarsch nach Nürnberg teilzunehmen, hatte Beuys selbst daher keine, die hatten aber seine Eltern.47 Irritierend war für den naturwissenschaftlich Interessierten nur, dass bei der Bücherverbrennung, die auf dem Klever Schulhof im Mai 1933 stattfand,48 möglicherweise Bücher verbrannt wurden, die ihn faszinierten. Später sagte er, er habe aus dem brennenden Haufen einiges Beiseite geschafft, unter anderem Systema Naturae des schwedischen Naturforschers Carl von Linné.49 Allerdings stand Linné nicht auf dem Index der Nazis. Beuys war damals gerade einmal zwölf Jahre alt. Als einen bewussten, heroischen Akt des Widerstands wird man diese Geschichte, sofern sie sich überhaupt so zugetragen hat, auf keinen Fall werten dürfen. Über die Gräueltaten der Nationalsozialisten, die es natürlich auch in Kleve gab — 1938 brannte auch hier die Synagoge —, hat Beuys später nie gesprochen.
Ein Jahr vor dem Abitur entsprach der uniformierte Drill der Hitlerjugend nicht mehr dem Freiheitsdrang des Teenagers. Beuys suchte daher sein Glück beim Zirkus. Ein »Zirkusmädchen« hatte ihm den Kopf verdreht.50 Er riss aus und schloss sich der fahrenden Truppe an. Diese nahm den jungen, kräftigen Mann mit — als Plakatausträger, Handlanger, Tierpfleger. Das Intermezzo währte jedoch nicht lange, wie sich Gertrud Beuys erinnert. Am Oberrhein fing der Vater seinen Sohn wieder ein. Für Beuys ging die Geschichte glimpflich aus. Zwar wollten seine Eltern, dass ihr Sohn die Schule verließ und in einer Margarinefabrik in Kleve Prokurist würde, doch blieb es bei der Androhung. Beuys durfte wieder auf das Gymnasium gehen und schloss nach einer Ehrenrunde seine Schulkarriere 1941 ab.51
Es gibt nicht viele Künstler, deren Werke so substanziell von Kindheits- und Jugendeindrücken gespeist sind wie die von Beuys. Spezifische Eigenschaften der Menschen und der Landschaft des anarchistischen Mikrokosmos Niederrhein haben sich tief in Beuys’ Leben und Werk eingegraben. Hier wohnen seit Generationen Menschen, die widerspenstig und melancholisch, erdverbunden und spirituell, aber auch neugierig und idealistisch sind, deren Sprachklang mehr dem Niederländischen als dem Deutschen verwandt scheint und deren Satzgebilde ausufernd weit und ungeordnet sind wie die Landschaft; und die eigentlich schon in der Schule lernen konnten, wie man die Freiheit bis zum Tod verteidigt. Anacharsis Cloots (1755–1794), ein niederländisch-preußischer Baron, Kämpfer für die Menschenrechte während der Französischen Revolution, ist ein Vorbild dafür. Er wurde in Kleve geboren. Auf dem Weg zur Schule radelte Beuys an dem ehemaligen Schloss dieses Revolutionärs und Atheisten vorbei. Daran knüpfte der erwachsene Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg an, indem er manchmal mit »Anacharsis Cloots Beuys« oder »Anacharsis-Beuyscloots« oder »Cloots-AnacharsisBeuys« unterschrieb.52 Das Leben des Revolutionärs Cloots stand vermutlich nicht auf dem Lehrplan der Nationalsozialisten. Sonst hätte Beuys sich möglicherweise anders zu deren menschenverachtendem Regime verhalten. Instruiert und konditioniert durch die Teilnahme an der Hitlerjugend sei Beuys am letzten Schultag — das Notabitur in der Tasche — direkt zum Wehrmeldeamt gegangen und sofort in die Luftwaffe eingetreten, erinnerte sich ein Klassenkamerad.53 Die vage Vorstellung, Kinderarzt zu werden, verfolgte Beuys nicht weiter. Im Nachhinein erklärte er seinen Wunsch, zur Luftwaffe zu gehen, durch sein »starkes naturwissenschaftlich-technisches Interesse«.54
Eine solche Aussage lässt sich als Sieg nationalsozialistischer Erziehung und Propaganda werten, denn deren Vertreter legten es geradezu darauf an, bei Jungen technische Begeisterung und Abenteuerlust zu wecken, um aus ihnen kampfbereite Soldaten zu formen. Im Besonderen war es der Überfall der Wehrmacht auf die Niederlande, Belgien und Luxemburg am 10. Mai 1940, der Beuys so beeindruckt hatte, dass er sich »spontan« dazu entschloss, Soldat zu werden.55