»Mut, Mut, Frau Bertram, es wird vielleicht noch alles gut. Beruhigen Sie sich, gehen Sie in Ihr Zimmer zurück und denken Sie nicht mehr an die Vergangenheit. Wo ist Ihr Sohn?«
»Er ist schon früh ausgegangen, um Brot zu holen, denn wir haben gestern und heute noch nichts gegessen. Ich fürchte, er kommt mit leeren Händen zurück und wir müssen heute wieder fasten. Armer Richard!«
Ein heftiges Schluchzen folgte diesen Worten und ein Tränenstrom entstürzte den Augen der armen Mutter. Plötzlich aber erhob sie sich, aus den Blicken strahlte wieder jener unheimliche Glanz und der Schmerz verwandelte sich in Wut.
»Bösewicht! Bösewicht«, rief sie mit kreischender Stimme, »du trägst die Schuld an unserm Elend, du hast mit frecher Hand mein Glück zertrümmert! Du fährst in prächtigen Karossen, während ich mit meinem Sohn darbe! … Gestern kam ich bei einem Palast vorbei … da stand ein glänzender Wagen … ein Mann in Generalsuniform trat heraus und stieg ein … er war es, es war Ferdinand … ja, ja, ich erkannte ihn gleich wieder; doch er erkannte mich nicht, die arme Frau in dem zerlumpten Mantel war dem großen Herrn fremd. … Er stieg ein und der Wagen rollte dahin … ach, er war immer noch schön … schön wie damals … als er mir mein Glück und meinen Gatten raubte! … Heute ist Ball im Palast, wie ich einen Bedienten sagen hörte … ich komme, Ferdinand, um mit dir zu tanzen … ach, die prächtige Musik … wie sie durch den glänzenden Saal rauscht! La, la, la, la! Komm Ferdinand, komm!«
»O mein Gott«, rief der Greis mit emporgehobenen Händen, »Sie sind krank, Frau Bertram! Ich werde Sie in Ihr Zimmer bringen, legen Sie sich zu Bett; sobald Richard zurückkehrt, wollen wir beraten, was zu tun ist, um Ihnen Pflege zu verschaffen. Ach, dass ich selbst so arm bin! Kommen Sie!«
In diesem Augenblick ließ sich ein Klopfen an der Tür vernehmen.
»Richard kommt!«, rief der alte Mann und öffnete hastig die Tür.
Zwei Damen traten ein. Die ältere von ihnen, eine Matrone im vorgerückten Alter, einfach, aber sehr anständig gekleidet, reichte dem Greis freundlich lächelnd die Hand und grüßte in herzlichen Worten; die andere, ein blühend schönes, junges Mädchen von achtzehn bis neunzehn Jahren, in einem eleganten weißen Sommeranzug, war kaum eingetreten, als sie auch schon auf Frau Bertram zueilte und sich mit ihr teilnehmend beschäftigte.
»Himmel«, rief sie erschrocken, »die arme Frau schüttelt ein heftiger Fieberfrost; man schicke nach einem Arzt! Und dieser Aufzug – was ist hier vorgegangen?«
Der Greis winkte mit der Hand und gab durch Zeichen zu verstehen, dass er später Aufschluss erteilen würde.
»Ich bin krank, sehr krank!«, stammelte Frau Bertram. »Wo ist mein Sohn? Ich muss wieder zu Bett!«
Die unglückliche Frau schwankte zur Tür, um das Zimmer zu verlassen; da hörte man im Vorsaal die Stimme eines jungen Mannes rufen:
»Mutter! Mutter! Wo ist meine Mutter?«
»Richard«, rief die Mutter, indem sie das Zimmer verließ, »bist du endlich da? Führe mich, denn ich bin krank.«
Am Arm des zurückgekehrten Sohnes, der sie an der Tür empfing, kehrte Frau Bertram in ihr Zimmer zurück. Tief bewegt standen der Greis und die beiden Damen da, als sich die Tür geschlossen hatte. Die jüngere von ihnen war ans Fenster getreten und trocknete mit einem weißen Batisttuch ihre Augen.
»Herr Wilibald«, begann die ältere Dame nach einer Pause, »Sie haben schon das Bett verlassen; fühlen Sie sich auch ganz wohl? Ich fürchte, dass der Auftritt mit jener armen Frau nachteilige Folgen für Ihre Gesundheit herbeiführen kann. Sie scheinen bewegt zu sein?«
»Ach«, sprach der Greis, »wie soll ich Ihnen Ihre Freundlichkeit, Ihre Großmut danken! Doch fürchten Sie nichts, ich bin, obwohl noch schwach, seit einigen Tagen völlig genesen. Frau Bertram, meine Nachbarin, hat mich so gut gepflegt, dass meine Krankheit nicht von langer Dauer war. Wie es scheint, werde ich jetzt meine Krankenwärterin pflegen müssen, denn ihr altes Übel, das sie seit einem Jahr verlassen hatte, ist zurückgekehrt. Die Kleider und die Blumen im Haar werden ihnen deutlich genug gesagt haben …«
»Arme Frau!«, flüsterte das junge Mädchen leise vor sich hin.
»Kennt man den Grund ihrer Geisteskrankheit?«
»Vielleicht ist er in der Armut zu suchen, in der sie lebt«, fügte die junge Dame hinzu. »Wenn dies der Fall ist, wollen wir helfen!«
»Ach nein«, entgegnete Wilibald, »die Krankheit hat einen andern Grund; die unglückliche Lage ist nur eine Folge dieser Krankheit, für die es, wie mir scheint, keine Arznei gibt; nur Gott allein vermag hier zu helfen!«
»Wer ist denn diese arme Frau? Wissen Sie etwas von ihrem Schicksal, Herr Wilibald, o so teilen Sie es uns mit; vielleicht ist dennoch Hilfe möglich!«
»Nehmen Sie Platz, meine Damen«, sprach der Greis, indem er die Holzstühle heranrückte, »ich werde Ihnen mitteilen, was mir die arme Frau selbst erzählt hat.
Es ist nun fast ein Jahr her«, begann der Greis, »dass ich diese Wohnung bezog. Frau Bertram und ihr Sohn bewohnten bereits das kleine Zimmer neben dem meinigen. Dass nichts leichter und inniger verbrüdert als das Unglück, ist eine Wahrheit, die sich auch hier bestätigte, denn schon nach einigen Wochen waren wir alte Bekannte; es verging kein Tag, der uns nicht beisammen sah, es genoss keiner eine frohe Stunde, die der andere nicht teilte. Richard, mit einem schönen Talent für die Dichtkunst begabt, fand damals bei einem hiesigen Buchhändler Beschäftigung, deren Ertrag ihn und seine Mutter vor Entbehrung schützte, und ich muss bekennen, dass auch mich der Hunger verschonte, wenn meine guten Nachbarn zu essen hatten. Nach einigen Monaten warf mich eine heftige Krankheit darnieder, und hatte ich in gesunden Tagen eine Stütze an Frau Bertram und ihrem Sohn gehabt, so fand ich sie in den Tagen des Unglücks doppelt in ihnen. Am Tag saß die Mutter an meinem Bett und nachts der Sohn, mit seinen Arbeiten beschäftigt. So verfloss der Herbst und ein Teil des Winters. Da erhob die Revolution ihr blutiges Haupt, alle Gewerbe stockten und auch Richard teilte das Los vieler Tausende – er hatte keine Arbeit mehr. An Ersparnisse war nicht zu denken gewesen, denn was die beiden Gesunden sich abgedarbt hatten, wurde von meiner Krankheit verschlungen.
Mit dem Elend machte sich auch die Geisteskrankheit der armen Frau Betram wieder bemerkbar, die bis dahin still und in sich verschlossen gelebt hatte. Teilnehmend befragte ich sie nach ihrem Schicksal, als ich sie eines Tages in Tränen aufgelöst in ihrem Zimmer fand, und ich erfuhr Folgendes: Frau Bertram ist die Tochter eines Kaufmanns in P., den die Welt für reicher hielt, als er wirklich war. Ein achtbarer Beamteter, mit einem anständigen Gehalt, bewarb sich um das junge Mädchen, und nur dem Drang der Eltern und nicht dem des Herzens folgend, reichte sie dem Mann, fast gegen ihre Neigung, am Altar die Hand. Kaum ein Jahr nach ihrer Verheiratung erklärte sich der Grund, aus dem der Vater sein Kind zu dieser Ehe gezwungen hatte: Er fallierte und hatte zuvor noch die Zukunft seines einzigen Kindes sichern wollen. Die Mutter brachte Gram und Kummer in die Grube und den Vater die Hartherzigkeit seiner Gläubiger in das Schuldgefängnis, wo auch er bald darauf starb. Jetzt stand die Tochter allein in der Welt, gekettet an einen Mann, den sie nicht liebte, der denselben trockenen Geschäftsgang in seinem Hauswesen eingeführt hatte wie in seinem Büro. Dieser eingefleischte Bürokrat behandelte seine Gattin, in deren Mitgift er sich gewaltig getäuscht hatte, nicht anders als seinen Schreiber; das geringste Versehen im Gang des Haushalts zog der armen jungen Frau eine demütigende Behandlung zu. Obgleich der Himmel ihre Ehe mit einem Knaben segnete, änderte sich dennoch das kalte, herzlose Betragen des Vaters nicht; die junge Mutter, immer mehr das Unglück ihrer Lage erkennend und fühlend, saß weinend an der Wiege des kleinen Richard, des einzigen Wesens, an dem ihr Herz mit Liebe hing. In dieser