Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe). August Schrader. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: August Schrader
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Исторические любовные романы
Год издания: 0
isbn: 9783946469278
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bis ich mit dem Einbruch der Nacht erschöpft vor einem großen Haus niedersank. Da trat plötzlich ein Mann zu mir und führte mich in das große Haus – es war Herr Hubertus, der edelmütigste aller Menschen. Seine Liebe und Sorgfalt lehrten mich, ihn bald als meinen Vater zu betrachten; aber wie viele Tränen habe ich um meine Mutter und meinen Bruder geweint! Was ich von meiner Familie und dem Vorfall mit dem Wagen wusste, teilte ich meinem Wohltäter mit; er stellte Nachforschungen an, aber niemand konnte ihm Auskunft erteilen. Herr Hubertus beunruhigte sich über dieses Geheimnis; er glaubte, dass euer Verschwinden einen politischen Grund habe, und um von meinem Haupt jede mögliche Gefahr abzuwenden, ließ er mich meinen Namen ändern. Ach, Mutter, Bruder, unsere Wiedervereinigung ist ein Wunder der Vorsehung; ich erblicke darin den Beweis, dass alle unsere Leiden nun beendet sind. Abends, wenn ich zur Ruhe ging, hörte ich den leisen Gesang meiner guten Mutter; ich sah sie an meinem Bett sitzen, wie sie sich zu mir herabneigte, ich fühlte ihren Hauch, ihre Küsse: Dann falteten sich die kleinen Hände, die Lippen der Mutter begannen das Abendgebet …«

       »Sei der Kinder Schutz und Rater,

      Herr in lichten Himmelshöh’n!«, flüsterte in diesem Augenblick die arme Wahnsinnige, die mit zum Gebet verschränkten Händen dasaß und lächelnd vor sich hinblickte wie auf einen geliebten Gegenstand; die Erzählung hatte die Erinnerung an jene Zeit mächtig in ihr angeregt und sie das Abendgebet beginnen lassen.

       »Sei, Allmächt’ger, unser Vater,

      Lass uns nicht in Leid vergeh’n!«, rief Franz, von seiner Empfindung hingerissen, das Gebet fortsetzend; dann stürzte er wie bewusstlos zu den Füßen der Mutter nieder.

      »Mein Kind, mein Kind!«, schrie die Mutter in durchdringenden, grellen Tönen, und die Freude schien die Fesseln des Wahnsinns gesprengt zu haben. »Bete, mein Sohn, bete, dass ich deine Stimme höre – küsse mich, dass ich deinen Hauch fühle und das Feuer deiner Purpurlippen! Siehst du, mein Fritz«, fuhr sie weinend fort, warf ihren Mantel zur Erde und umschlang den Sohn mit beiden Armen, »siehst du, der Herr aller Wesen war dein Schutz und Rater; du bist ein schöner junger Mann geworden, doch mich hat er verlassen, mich hat er für meinen Frevel bestraft und mit Unglück überschüttet. Doch nein, ich muss wohl genug gebüßt haben, denn er hat mir ja meinen Sohn wiedergegeben; ich halte ihn in meinen Armen und bin gewiss, dass er noch lebt und mich nicht verflucht hat. Ja«, fügte sie hinzu und sah mit einem Entzücken, wie es nur eine Mutter bei dem Wiedersehen ihres verloren geglaubten Sohnes empfinden kann, den jungen Mann an, »ja, dies ist das Bild, das mir in meinen Träumen vorschwebte, so stellte ich mir den kleinen Fritz vor, wenn er zum Mann herangewachsen wäre!«

      Schweigend hielten sich Mutter und Sohn umschlungen und weinten heiße Tränen der Freude.

      Einen schlagenderen Beweis, dass der fremde junge Mann sein Bruder war, konnte Richard nicht fordern. In sich gekehrt und erschüttert von der Szene, die sich vor seinen Augen ereignete, stand er da, ohne ein Wort zu reden. Er wusste nicht, ob er die Wiedervereinigung mit seinem Bruder für ein Glück oder für das verhängnisvolle Spiel des Zufalls halten sollte, dessen Opfer er sich wähnte, denn er empfand in diesem Augenblick zum ersten Mal die furchtbare Qual der Eifersucht. Doch schon im nächsten Augenblick besiegte sein edler Charakter die emporkeimende Leidenschaft; er sah in Franz nur seinen Bruder und Lebensretter, und mit diesem Gefühl trat er auf die Gruppe zu.

      »Bruder«, sprach er reuig, »kannst du mir verzeihen, dass ich dich verkannte? Das Unglück hat mich und unsere Mutter so grausam verfolgt, dass ich den Glauben an die Menschen schon seit Langem verloren habe. Verzeihung, mein Bruder, mein Lebensretter!«

      »Richard«, rief Franz, indem er sich leise seiner Mutter entwand und dem Bruder die Hand reichte, »hatte ich nicht recht, als ich dir sagte, ich bringe Beweise, die deinen Glauben an die Vorsehung wieder befestigen sollen?«

      »O mein Gott«, rief Frau Bertram, und blickte gerührt zum Himmel empor, »ich danke dir; die Vergehen der Mutter hindern die Brüder nicht, sich zu lieben!«

      »Mutter«, sprach der Dichter, »was sollte mich abhalten, ihn zu lieben? Ich kannte ihn schon, ehe ich wusste, dass er mein Bruder ist, und wenn ich Ihnen erzählte, welchen Dienst er mir geleistet hat …«

      »Still, Richard«, unterbrach ihn Franz eifrig, »lass die Vergangenheit ruhen; sie sei für uns beide vergessen!«

      »Braver Sohn!«, sprach Frau Bertram. »Sollte man nicht glauben, du hättest deine Mutter in einem Palast wiedergefunden? Doch sieh dich nur um«, fügte sie schmerzlich hinzu, »du kannst nur Not und Elend mit uns teilen; die Annehmlichkeiten des Lebens sind uns fremd.«

      »Und wenn es wahr wäre«, rief der Associé des Herrn Hubertus, indem er freudig beide Hände seiner Mutter ergriff, »wenn ich das größte Elend mit Ihnen teilen müsste, mein Glück über unser Wiederfinden würde nicht einen Augenblick getrübt werden. Aber ich wiederhole Ihnen, alle unsere Leiden sind nun beendet; Kummer und Entbehrung sollen Ihnen in Zukunft fremd bleiben und die Liebe Ihrer Kinder soll Ihnen das Leben verschönen und die Vergangenheit vergessen machen. O meine gute Mutter! Auch eine Tochter werden Sie unter Ihren Kindern haben«, fügte er etwas leiser hinzu, »einen Engel an Schönheit und Herzensgüte, der Ihnen stets zur Seite stehen wird.«

      »Eine Tochter, sagst du?«, fragte die Mutter neugierig, und aus ihren Augen strahlte wieder jener unheimliche Glanz, der ankündigte, dass ihr trauriger Geisteszustand zurückgekehrt war. Der großen Aufregung folgte nun auch die Erschlaffung des Körpers; erschöpft blieb sie noch einige Augenblicke stehen, dann sank sie auf ihren Stuhl zurück. Franz bemerkte nichts von dieser Veränderung, denn ihm waren die Symptome einer solchen Krankheit unbekannt; zudem war er auch zu glücklich und zu sehr mit der Zukunft beschäftigt, als dass er an etwas anderes denken konnte.

      »Ja, Mutter«, antwortete er, »auch eine Tochter, denn ich habe Sie um Ihren Segen zu meiner nahe bevorstehenden Verbindung mit der liebenswürdigen Tochter meines Wohltäters zu bitten. O mein Gott«, rief er im Übermaß seines Glückes, »der Segen der Mutter wird mich zum Altar begleiten; was ich für unmöglich hielt, lässt der Himmel mir in Erfüllung gehen!«

      »Deine Braut ist schön, mein Sohn? Wie heißt sie?

      »Anna Hubertus, meine Mutter!«

      »Anna!«, wiederholte die Kranke. »Ja, dann muss sie schön sein! Ich kenne auch eine Anna, die ich öfter bei unserm blinden Nachbarn gesehen habe – auch die war schön und gut wie ein Engel. Herr Wilibald pflegte dann zu sagen, wenn wir beide bei ihm waren, dass ihn zwei Engel besuchten: die Hoffnung und die Wohltätigkeit.«

      »Mutter«, rief Franz, »noch heute führe ich Ihnen meine Anna zu; ich hoffe, Sie werden mit Ihrer Tochter zufrieden sein!«

      »Nein, nein«, fuhr Richard auf, und eine flammende Röte bedeckte sein ganzes Gesicht, »führe sie nicht zu uns! Die Mutter ist krank und unsere Wohnung nicht geeignet, die Tochter eines reichen Kaufmanns zu empfangen.«

      »Fürchte nichts, mein Bruder«, antwortete Franz, »Anna ist kein hochmütiges Mädchen; sie hat den edlen Charakter ihres Vaters und weiß, dass ich eine arme Waise bin. Das Glück, meine Familie wiedergefunden zu haben, macht sie zu dem ihrigen, und ich bin überzeugt, dass sie aus vollem Herzen meine Freude teilt.«

      »Und dennoch bitte ich dich, führe sie nicht zu uns. Kann dich unsere Armut nicht von deinem Plan abhalten«, fügte er flüsternd hinzu, »so betrachte unsere Mutter: Sieh, die Krankheit erfasst sie wieder, sie redet mit sich selbst – ihr Geist ist dem Körper entrückt, er durcheilt das grenzenlose Reich der Träume.«

      Der Anblick seiner Mutter durchschnitt dem jungen Kaufmann das Herz; er betrachtete sie jetzt zum ersten Mal mit prüfender Aufmerksamkeit. Ihr bleiches, ovales Gesicht, fast ausdruckslos, mit den trockenen, tief in ihren Höhlen liegenden Augen, von den wild herabhängenden schwarzen Haaren umgeben, flößten dem, der die arme Frau zum ersten Mal sah, ebenso viel Schreck wie Mitleid ein. Bedenkt man dazu die hagere, von schlechter, zerrissener Kleidung eingehüllte Gestalt, regungslos dasitzend, so hat man das Bild, das sich in diesem Augenblick dem armen Franz zeigte. Und diese unglückliche, beklagenswerte Frau war seine Mutter, das Ziel seiner Wünsche, der