Mila war zutiefst empört über das Unrecht, das man den Männern der „Goldenen Henne“ antat. Sofort erklärte sie sich bereit, Roger zu helfen. Sie besorgte ihm Proviant – und er verließ das Dachzimmer in der Nacht auf dem „Schleichpfad“.
Zu dem Dachzimmer gelangte man über eine Außentreppe auf der Hinterseite des Hauses, wo sich ein großer Hof befand. Dieser wiederum grenzte an eine Nebengasse und war von dort aus durch eine Hintertür zu erreichen. So hatte niemand Roger Lutz gesehen, als er mit seinem Proviantsack in der Nacht verschwunden war. Allerdings hatte er noch einen Soldaten bewußtlos geschlagen und diesem die Waffen und die Munition abgenommen. Dann hatte er sich mit dem von ihm „requirierten“ Kahn verzogen.
Mila unterbrach ihre Näharbeiten, verließ ihre Bleibe und mischte sich am Hafen unter die Leute. Die Flucht der „Deutschen“ war das Gespräch Nummer eins – das Tagesthema. Mila war nicht die einzige, die dem Kommandant de Sanamonte diese Schmach von Herzen gönnte. Viele konnten den Kommandanten nicht leiden.
Noch lieber wäre Mila gewesen, wenn auch Don José de Zavallo von dem Bubenstreich der „Deutschen“ erfahren hätte. Diesen kaltschnäuzigen Mann haßte sie genauso wie Don Lope de Sanamonte. De Zavallo war ein Sadist Mila war einmal mit ihm zusammengewesen. Nie wieder, hatte sie sich gesagt. Selbst eine hartgesottene Dirne fühlte sich von diesem Teniente mit den ausgefallenen Wünschen angewidert.
Viel schlimmer war, daß de Zavallo bei seinem Ziel, unbedingt die Karriereleiter zu erklettern, über Leichen ging. Er kannte weder Skrupel noch Hemmungen. Schon manchem anderen Mann in St. Augustine war diese Art unangenehm aufgefallen. Viele haßten de Zavallo, weil er rücksichtslos mit der Neunschwänzigen auf seine Männer losging, falls sie mal nicht parierten. In den Kneipen kursierten die haarsträubendsten Berichte.
Manch einer hätte diesem Don José de Zavallo gern ein Messer zwischen die Rippen gestoßen. Doch wer riskierte schon, am Hals aufgehängt zu werden? De Zavallo räumte jeden aus dem Weg, der ihm in die Quere geriet. Jetzt war er bereits Kommandant eines Schiffes. Irgendwann, so dachte Mila, würde er auch de Sanamonte übertrumpfen und dessen Posten als Festungskommandant übernehmen. Dann würde es in St. Augustine noch übler zugehen als jetzt.
Mila ging zur Festung. Sie hörte die Befehle, die auf dem Innenhof ausgestoßen wurden. Immer neue Suchtrupps wurden gebildet. Das Tor öffnete sich in unregelmäßigen Zeitabständen, Soldaten rückten aus. Mila war sicher, daß sie den Franzosen und seinen Freund nie finden würden. Roger war schlau und flink, gerissen wie ein Fuchs. Innerlich lachte sie und freute sich diebisch über Don Lopes Ohnmacht.
Als sie am Kerker vorbeischritt, schob sich eine behaarte Hand aus einem der winzigen vergitterten Fenster hervor, die sich in Höhe des Fußsteiges befanden. Mila sah es rechtzeitig und wich aus. Drinnen stieß der Kerl, dem die Hand gehörte, einen Fluch aus. Auf englisch. Mila verstand diese Sprache nicht. Aber sie wußte, wer der Grapscher war. Einer dieser ekelhaften ferkelgesichtigen Kerle, die mit den anderen Engländern im Gefängnis hockten.
Als sie in die Festung geführt worden waren, hatte Mila auf dem Kai gestanden und sie aus unmittelbarer Nähe betrachtet. Rohe Kerle waren das, und der schlimmste war der Bootsmann, der, wie Mila vernommen hatte, O’Leary hieß. Aber auch die ferkelgesichtigen Brüder waren nicht zu unterschätzen. Weiter gehörten sieben Señores zu der Bande, die zwar einen sehr hochwohlgeborenen Eindruck machten, nach Milas Überzeugung aber genauso durchtriebene Halunken wie die anderen waren. Sie hatte genug Menschenkenntnis. Keiner konnte sie so leicht täuschen.
Keiner wußte genau, ob diese Strolche Piraten oder „Sonderbeauftragte“ ihrer Königin waren, wie sie behaupteten. Don Lope hielt sie „zur Beobachtung“ in St. Augustine fest, bis er sich selbst über sie im klaren war. Sonst hätte er sie wahrscheinlich bereits deportieren lassen, obwohl er Sklaven für die Festungsarbeiten immer gebrauchen konnte.
Mila mischte sich unter eine Reihe von Schaulustigen, die am Tor der Festung standen, und verfolgte, was weiter geschah.
Simon Llewellyn Killigrew, der nach Milas Fußknöchel hatte grapschen wollen, ließ sich mit einem Fluch auf das Stroh am Boden der Gemeinschaftszelle sinken. Dumpf blickte er seinen Bruder Thomas Lionel an.
Thomas Lionel fragte mit mürrischer Miene: „Was soll der Quatsch?“
„Hast du gesehen, was sie für einen Hintern hat?“ fragte Simon Llewellyn zurück.
„Nein“, brummte sein Bruder. „Was nutzt mir der schönste Hintern, wenn ich an ihn nicht rankann?“
Simon Llewellyn schnitt eine verächtliche Miene. „Du Tranfunzel. Ich hätte sie durchs Gitter zu uns gezogen, wenn sie nicht ausgewichen wäre.“
Thomas Lionel grinste. „Ja? Und was dann?“
„Dreimal darfst du raten.“
„Was brummeln die Kerle?“ fragte einer der Hochwohlgeborenen, die in einer anderen Ecke der geräumigen Zelle hockten.
„Vulgäres Zeug“, erwiderte Sir James Sandwich. „Wie es sich für solche Primitivlinge geziemt.“
„He“, sagte Simon Llewellyn. „Habt ihr was zu meckern?“
Die sieben „Gentlemen“ antworteten nicht. Und O’Leary, der mit finsterer Miene an der Tür stand, schoß einen derart haßerfüllten, mörderischen Blick auf die Ferkel-Brüder ab, daß diese jede weitere Äußerung unterließen. O’Leary hatte sie oft genug verprügelt. Sie wollten ihm keinen Anlaß geben, seine kochende Wut an ihnen auszulassen.
Es herrschte wieder Schweigen in der Zelle der Engländer. O’Leary brütete dumpf vor sich hin. Er hatte die Hiebe, die er von Jean Ribault bezogen hatte, noch nicht richtig verarbeitet. Und jetzt die Nachricht, daß der Franzose entflohen war! Und mit ihm war noch ein anderer Kerl getürmt. Das war zuviel für O’Leary.
Er wartete nur darauf, daß die Wärter erschienen, um die Gefangenen wie jeden Tag zur Zwangsarbeit zu führen. Dann würde er verlangen, noch einmal Don Lope de Sanamonte vorgeführt zu werden. Er, O’Leary, traute sich zu, den „Hund von einem Franzosen“ im Dschungel um St. Augustine wiederzufinden.
Immerhin war Ribault gewissermaßen der Pfand für O’Learys Freilassung. Gelang es Don Lope, durch Ribault den Seewolf zu finden, den er wie die Pest haßte, dann würde er sich dem ehemaligen Bootsmann der „Lady Anne“ gegenüber gewiß erkenntlich zeigen. Nur darauf wartete O’Leary. Doch wenn Don Lope Ribault nicht mehr ausquetschen konnte, weil dieser auf und davon war, sah es übel aus.
Karl von Hutten, Renke Eggens, Hein Ropers, Hanno Harms und die anderen Männer von Ribaults Crew, die in einer der anderen großen Zellen des Kerkers zusammensaßen, sprachen ebenfalls kein Wort. Sie hofften nur das eine: daß Jean Ribault und Roger Lutz nicht wieder gefaßt wurden. Was mit ihnen selbst geschah, war ihnen zur Zeit ziemlich egal. Sie empfanden nur – wie Mila – die allergrößte Schadenfreude. Don Lope hatte nicht damit gerechnet, daß ausgerechnet der Mann, den O’Leary als „Spießgesellen“ des Seewolfes wiedererkannt zu haben glaubte, fliehen würde.
Auf die Gefängniswärter, die sie sonst abholten, konnten die Insassen des Kerkers an diesem Morgen allerdings lange warten. Die erschienen nicht. Sie hatten jetzt Wichtigeres zu tun, als die Sträflinge aus den Zellen zu holen und zur Sklavenarbeit zu treiben. Don Lope de Sanamonte brauchte jeden Mann.
Mit verzerrtem Gesicht stand Don Lope de Sanamonte auf dem Festungshof. Er leitete die Suchaktion, schrie seinen Männern