Bis zum Palast der Familie Burke war es nur noch ein Katzensprung. „Festung“, wäre ein besserer Ausdruck für dieses hochherrschaftliche Anwesen gewesen, das auch über ein eigenes Gefängnis innerhalb seiner Mauern verfügte.
Über eine Brücke aus mächtigen Quadersteinen erreichten sie die Dominick Street, die in ihrer ganzen Länge von der an eine Burgmauer erinnernden Einfriedigung des Burke-Wohnsitzes eingenommen wurde. Das Anwesen lag im Winkel zwischen Dominick Street, Presentation Road und einem Nebenarm des River Corrib.
Nahezu uneinnehmbar war dieser festungsähnliche Bau. Nur mit etlichen Höllenflaschen und dem Überraschungsmoment auf ihrer Seite war es den Seewölfen gelungen, hier einzudringen und Dan O’Flynn aus dem Kerker zu befreien.
Die anschließende Flucht hatte über das nahegelegene Fischerdorf The Claddagh bis zu den Aran-Inseln geführt. Dort waren sie Burkes Handlanger McPherren in die Hände gefallen, der eine Brieftauben-Botschaft nach Galway geschickt und das Söldner-Kommando unter Norman Stephens auf den Plan gerufen hatte.
Die Posten auf dem Wehrgang hinter den Mauerzinnen mußten die stumme Marschformation schon frühzeitig erblickt haben. Denn die beiden Torflügel schwangen auf, ohne daß Norman Stephens ein Kommando geben oder eine Parole nennen mußte. Sie erreichten den Innenhof, und Stephens ließ die Gefangenen zu jenem Gebäudetrakt führen, in dem sie den Kerker wußten.
Beim Anblick der Gerüste und Gerätschaften, die an verschiedenen Stellen aufgebaut waren, konnten sich die Seewölfe eines verstohlenen Lächelns nicht erwehren. Ihr Blitzbesuch im Hause Burke hatte deutliche Spuren hinterlassen.
Nun, es waren ja auch einige Höllenflaschen erforderlich gewesen, um Dan O’Flynn herauszupauken. Die Detonationen hatten zwei Säulen wegknicken und ein Dach einstürzen lassen. Daneben gab es geringfügigere Schäden an den Wänden und Fenstern. Steinmetze hatten bereits neue Granitblöcke herangeschafft.
Vom Innenhof aus war der eigentliche Wohnsitz der Familie Burke, im Stil eines spanischen Herrenhauses gebaut, nur bruchstückhaft durch einen Torweg zu sehen. Hier, an dem geräumigen Hof, der mit Steinen gepflastert war, befanden sich sowohl die Kontore des Handelshauses Burke als auch die Unterkünfte der Söldnertruppe und die Stallungen. Der Kerker lag an der Seite zur Corrib-Mündung. Von den vergitterten Fenstern aus, das wußten Hasard und seine Männer, konnte man zum Long Walk und den dort vertäut liegenden Schiffen hinüberblicken.
Einer der Posten vom Wehrgang entriegelte die Haupttür des Gefängnistraktes, und die Söldner unter Norman Stephens’ Kommando trieben die Gefangenen mit knappen, halblauten Kommandos durch die finsteren Gewölbegänge. Es hatte den Anschein, als scheuten sich die Uniformierten, die frühmorgendliche Ruhe ihres Dienstherrn und seiner Familie zu stören.
Der Weg endete in einem halbdunklen Vorraum, der zur Hofseite hin kein Fenster hatte. Nur eine einsame Fackel brannte in einem gußeisernen Ring an der Wand. Linker Hand erstreckte sich die Reihe der Eisengitter mit den darin eingefügten Türen. Auch untereinander waren die Zellen durch fast armdicke Gitterstäbe voneinander abgetrennt. Jede Zelle hatte ein winziges Fenster, das durch das mächtige Mauerwerk von mehr als einem Yard Stärke nur einen matten Fleck vom Tageslicht hereindringen ließ.
Der Posten, der vorangegangen war, schloß eine leere Zelle auf, die etwa zwanzig Yards im Quadrat maß. Hasard und seine Männer wurden hineingetrieben, mitsamt den Zwillingen und Arwenack, dem Schimpansen, dem man gnädigerweise keine Ketten angelegt hatte – wohl wissend, daß er niemals von der Seite seiner Menschenfreunde weichen würde.
In den Nachbarzellen waren einige Gestalten auf den Pritschen zu sehen. Nur wenige hatten sich halb aufgerichtet und starrten aus schlaftrunkenen Augen herüber. Die meisten waren liegengeblieben und wandten nur träge den Kopf, um zu sehen, was sich abspielte.
Scheppernd fiel die Gittertür hinter den Gefangenen ins Schloß, und der Posten betätigte den riesigen Schlüssel. Dann wandte er sich ab und begab sich zu den Söldnern, die sich bereits vor dem Durchgang zum angrenzenden Gewölbe formiert hatten.
Norman Stephens trat noch einmal an das Eisengitter. Er hatte den Helm abgenommen und unter den Arm geklemmt. Sein Gesichtsausdruck war pure Zufriedenheit.
„Es ist besser, ihr gebt jetzt Ruhe“, sagte er frostig. „Wagt nicht noch einmal, gegen euer Schicksal aufzubegehren. In dieser Stadt gibt es nur einen, der darüber bestimmt, und das ist George Darren Burke.“ Stephens nickte bekräftigend, wie, um seinen Worten besonderes Gewicht zu verleihen.
Er war ein großer und breitschultriger Mann, mit schulterlangem mittelblondem Haar. In seinem schmalen, scharfgeschnittenen Gesicht dominierte ein sorgfältig zurechtgestutzter Schnauzbart.
Philip Hasard Killigrew trat auf ihn zu.
„Ich frage mich, Mister Stephens, ob Sie an Ihre eigenen Worte glauben.“
Die Augen des Söldner-Kommandanten verengten sich zu Schlitzen.
„Halten Sie den Mund, Killigrew!“ zischte er. „Sie scheinen immer noch nicht begriffen zu haben, in welcher Lage Sie sich befinden.“
Der Seewolf lächelte nur. Es war ein kaltes Lächeln und in seinen eisblauen Augen lag ein seltsam harter Glanz.
Stephens, der noch einen barschen Verweis hinzufügen wollte, schloß den Mund. Da gab es etwas im Blick dieses hochgewachsenen Mannes, das ihn verstummen ließ. Mit seinen schwarzen Haaren, den breiten Schultern und den schmalen Hüften war Philip Hasard Killigrew eine imposante Erscheinung. Doch das allein hätte nicht gereicht, um Norman Stephens zu beeindrucken. Nein, der Kommandant der Burke-Söldner hatte längst begriffen, daß man dem Seewolf uneingeschränkten Respekt zollen konnte – wenn man nur auf derselben Seite gestanden hätte wie er.
Abrupt wandte sich Stephens ab, gab einen knappen Befehl und marschierte mit seinen Untergebenen hinaus. Wieder knallte eine Gittertür zu, und bald darauf verklangen die Schritte der Söldner im Gewölbegang.
Die Männer sahen sich in ihrer Zelle um, prüften die Pritschen, deren Holz feucht war, und die zerfledderten Decken, unter denen schon Generationen von erbarmenswerten Gefangenen geschlafen haben mochten. In den Nachbarzellen rührte sich noch immer niemand. Doch dieses Schweigen der Mitgefangenen war voller unausgesprochener Neugier.
„Hier stinkt es“, sagte Hasard junior laut und vernehmlich und rümpfte die Nase.
„Zum Himmel“, ergänzte Philip junior, wobei er sich kettenklirrend nach allen Seiten drehte. „Das Mannschaftslogis unserer guten alten ‚Isabella‘ war die reinste Morgenfrische dagegen.“
Der Seewolf drehte sich zu seinen Söhnen um. In seinen Augen blitzte es.
„Dieses altkluge Geschwätz möchte ich nicht mehr hören, verstanden? Die Menschen, die hier zusammengepfercht sind, leben nicht freiwillig unter solchen erniedrigenden Umständen. Es ist ungehörig, ihnen irgend einen Gestank vorzuwerfen. Habt ihr das begriffen?“
„Ja, Dad“, antwortete die Zwillinge kleinlaut und wie aus einem Mund.
Sie waren prachtvolle Burschen und ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Mit ihren bald zwölf Jahren schossen sie nun schon beträchtlich in die Höhe. Ihrem Vater waren sie wie aus dem Gesicht geschnitten. Es tat ihm leid, daß er sie ausgerechnet in dieser verdammten Situation so hart anpacken mußte. Aber sie sollten aus ihren Erfahrungen lernen. Deshalb waren sie bei ihm, und deshalb mußten sie auf gewisse Dinge hingewiesen werden. Auch wenn sie diese Ketten trugen, deren Anblick genügte, um den Seewolf in Rage zu bringen.
„Eigentlich war es ja ein Lob für uns“, sagte Dan O’Flynn, und jeder wußte, daß es als Schlichtungsversuch gemeint war. „Wenn bei uns im Mannschaftslogis die Luft so sauber war, beweist das doch nur, was für gepflegte Kerle wir sind.“ Der schlanke Mann, der durch seine Wirkung auf Frauen ausgerechnet in Galway so schlechte Erfahrungen gemacht hatte, lachte leise und blickte beifallheischend in die Runde.
Aber niemand stimmte in sein Lachen ein. Er verstummte