Ein stetes Rauschen war von jener Stelle zu hören, die nur einen Steinwurf weit vom Versteck der beiden Männer entfernt war. Die Geräuschkulisse, die bisweilen einen dumpfen, grollenden Unterton zu haben schien, wurde von einem mächtigen Wasserfall hervorgerufen. Vor einer felsigen Steilwand, die zugleich das westwärtige Ende des Flußtales bildete, stürzten die Fluten in die Tiefe – im Licht der Morgensonne wie ein schillernder Vorhang aus Millionen silbriger Fäden.
Was sich hinter diesem Wasserfall verbarg, konnte niemand auch nur im entferntesten vermuten. Nirgendwo gab es auch nur den winzigsten Hinweis auf das Geheimnis der Felswand. Und wären Jean Ribault und Roger Lutz nicht Zeugen gewesen, wie de Escobedo von seinem späteren Opfer Cajega hinter den Wasserfall geführt worden war, dann wären sie wahrscheinlich ahnungslos an den verborgenen Schätzen de Quintanillas vorbeimarschiert.
Das zusammengeraffte Vermögen des bisherigen Gouverneurs von Kuba befand sich hier, in diesem paradiesischen Flußtal. Doch war er natürlich nicht in der Lage gewesen, seine Schätze allein und unbemerkt hierher zu schaffen. Er hatte Helfer für den Transport gebraucht. Der Mann, der das alles für Don Antonio in die Wege geleitet hatte, war Miguel Cajega gewesen, Fuhrunternehmer in Havanna. Sein Wissen um das Schatzversteck hatte er mit dem Leben bezahlen müssen.
Alonzo de Escobedo, der sich jetzt Gouverneur von Kuba nennen durfte, hatte seinen Informanten an Ort und Stelle ermordet.
Dabei war Cajega zweifellos voller Hoffnung gewesen. Eine trügerische Hoffnung, wie sich gezeigt hatte. Ihm war es nicht anders ergangen als so vielen Menschen, die man unter der Folter zerbrochen hatte. Wie in Havanna und an anderen Orten der Welt glaubten die Geschundenen und Gedemütigten, mit ihrer Aussage alle Qualen abschütteln und neu beginnen zu können. Es war der Trugschluß, dem sie durch ihre gemarterten Sinne erlagen. Denn sie glaubten, in ihren kaltlächelnden Bezwingern einen Hauch von Menschlichkeit zu sehen, den es nicht gab.
De Escobedo mußte ein Musterbeispiel für solche Kaltschnäuzigkeit sein.
Die Männer vom Bund der Korsaren hatten miterlebt, wie der sehr ehrenwerte neue Gouverneur von seinen Schergen die auf Reede liegenden Handelsschiffe überfallen, in eine abgelegene Bucht verholen und ausplündern ließ. Und Jean Ribault und Roger Lutz hatten es immerhin geschafft, die verbrecherischen Machenschaften de Escobedos von einem Tag auf den anderen zu beenden. Gerade noch rechtzeitig war die Meute der Schnapphähne mit ihren angebohrten Booten auf Tiefe gegangen und von Haien zerfleischt worden. Denn anderenfalls wären ein französischer Kapitän und seine Mannschaft den menschlichen Haien zum Opfer gefallen.
Möglicherweise hatte diese jäh versiegte Einnahmequelle zum Entschluß de Escobedos beigetragen, die Mitwisserschaft Cajegas zu nutzen und sich zur Quelle traumhaften Reichtums führen zu lassen. Cajegas Bereitwilligkeit war durch das hochnotpeinliche Verhör herbeigeführt worden – und zum Schluß hatte er doch sein Leben lassen müssen. Der Emporkömmling, der sich Gouverneur von de Quintanillas Gnaden nennen durfte, erwies sich als geldgierige Bestie, die ihren Handlanger mit einer Kugel entlohnte.
Am gestrigen Nachmittag war de Escobedo unvermittelt aus dem Versteck aufgetaucht, nachdem er Cajega ermordet hatte. Dieser Bastard von einem Gouverneur schien eindeutig übergeschnappt gewesen zu sein. Sein Kichern hatte irre geklungen. Vermutlich fühlte er sich bereits als Krösus, und das konnte die wahnwitzigsten Folgen haben. Plötzlicher Reichtum vernebelte nur allzuoft das Gehirn jener Menschen, die davon befallen wurden – was im Fall de Escobedos zu besonders verrückten Überlegungen führen mußte.
Wahrscheinlich wälzte er schon die nächsten Mordpläne, während er mit gierigen Fingern in Gold und Edelsteinen wühlte.
Denn Alonzo de Escobedo mußte über kurz oder lang mit der Rückkehr des neuen Vizekönigs rechnen. Nach den Grundsätzen der Logik blieben dem Mörder nur zwei Möglichkeiten. Entweder brachte er Don Antonio um – dann konnte der Schatz zunächst im Versteck hinter dem Wasserfall bleiben. Oder er ließ den Schatz bergen, dann jedoch mußte er in eine Gegend verschwinden, in der ihn keine Häscher jemals aufspüren konnten.
Beide Möglichkeiten waren nach Einschätzung der beiden Männer vom Bund der Korsaren mit erheblichen Risiken verbunden. Deshalb warteten sie voller Spannung darauf, wie sich de Escobedo weiter verhalten würde.
Vielleicht trauten sie ihm aber auch zuviel zu. Vielleicht hatte er an diesem Morgen ganz andere Gedanken, und es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, all diese Probleme zu wälzen. Denn irgendwie schien er haargenau die Art Mensch zu sein, die sich vom Reichtum Trugbilder vorgaukeln ließ.
Was die beiden Männer in ihrem Versteck jedoch nicht wissen konnten, war eine andere Tatsache. Don Antonio de Quintanilla war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Gefangener des Seewolfs. Aber genau das wußte auch Alonzo de Escobedo nicht.
Eine tausendköpfige Menge hatte sich auf der Plaza versammelt. Düstere Hausfassaden säumten die gepflasterte Fläche. Es schien, als würden die Giebel jeden Moment einstürzen und ihn, den einsamen Mann, erschlagen. So einsam wie in diesen letzten Minuten seines Lebens war er nie zuvor gewesen – und das, obwohl die vielen Gaffer da waren.
Die Folterknechte hatten ihn an einen mannshohen Pfahl gefesselt, mit den Händen auf dem Rücken. Auf einer seltsam hohen Tribüne saßen prunkvoll gekleidete Adlige mit kalkigen Gesichtern, die abwechselnd in Nebelschwaden zerfaserten und wieder auftauchten. Nur die Augen schienen an diesen Pudergestalten zu leben – Augen voller boshafter Schadenfreude.
Der Scharfrichter war deutlicher zu erkennen, ein vierschrötiger Kerl mit nacktem Oberkörper und kahlem Schädel. Sein lederner Hüftgurt war mehr als handtellerbreit, daran hingen Säbel, Messer und Äxte wie ein eiserner Lendenschurz über der Leinenhose.
„Angeklagter!“ ertönte eine schrille Stimme aus den Reihen der Kalkgesichter. „Angeklagter Alonzo de Escobedo! Sie haben versagt – versagt – versagt …“
Es war wie ein hohlklingendes Echo aus der Tiefe einer Felsenschlucht.
„Nein!“ wimmerte er und schloß gequält die Augen. „Ich habe immer meine Pflicht getan – meine Pflicht – meine Pflicht …“
Die schrille Stimme peitschte dazwischen.
„Schweig! Du hast fremde Handelsschiffe im Hafen von Havanna vertäuen lassen, statt sie um ihre Ladung zu erleichtern. Wir haben mit dieser Einnahmequelle gerechnet, de Escobedo! Was sollen wir jetzt tun?“
„Den Versager bestrafen!“ schrie eine meckernde Stimme aus den wabernden Nebelschwaden, in denen die Kalkgesichter auf merkwürdige Weise zu tanzen schienen.
„Sehr richtig“, meldete sich wieder die Stimme, die zuvor zu hören gewesen war. „Versager werden mindestens mit dem Tode bestraft. De Escobedo, du wirst sterben – sterben – sterben …“
Er wollte schreien und abwehrend die Arme ausstrecken, doch wegen der Fesseln konnte er sich nicht bewegen. Dann schob sich plötzlich die grinsende Visage des Scharfrichters in den Vordergrund. Ein unangenehmer Geruch stieg auf.
Im nächsten Moment verschwand die grinsende Visage hinter gleißender Helligkeit. Eine glühende Säbelspitze!
Sie blendeten ihn!
„Wenn wir dich hinrichten“, rief der Scharfrichter höhnisch, „brauchst du keine Augenbinde mehr! Das erspart uns Kosten!“
Die Meute der hoch oben thronenden adligen Pudergestalten stimmte ein meckerndes Lachen an.
Grell und sengend heiß stach der Schmerz in de Escobedos Augen. Auf einmal waren es zwei glühende Säbelspitzen, die ihn gleichzeitig trafen und seinen Schädel zu durchbohren schienen.
Schweißgebadet fuhr er hoch und hörte das Echo seines Angstschreis.
Es dauerte lange Sekunden, bis er in die Wirklichkeit zurückfand. Sein Herzschlag raste, er stierte entsetzt in diese sengende, alles verzehrende Helligkeit, bis er endlich begriff. Es