Jetzt, an diesem Morgen, da die Sonne so widerwärtig durch die Bleiglasfenster blinzelte, sah alles noch schlimmer aus als vorher.
Ohne das Perlenbuch war er ein Nichts. Die eine Truhe, die er in der Bucht nahe Havanna geborgen hatte, war zwar ein sanftes Ruhekissen. Ein gutes finanzielles Polster, mit dem sich auskommen ließ. Aber der Inhalt an Perlen reichte nicht, um damit das königliche Leben zu führen, das er sich für den Rest seiner Tage vorgestellt hatte.
Er mußte etwas unternehmen. Daran führte kein Weg vorbei.
Endlose Minuten, wie Ewigkeiten, waren vergangen, als er es wagte, sich langsam aus der Koje zu wälzen. Noch behutsamer richtete er sich auf, um den Dröhnschädel zu überlisten.
Er schaffte es, seinen wichtigsten Körperteil in einem Stück zu behalten. Mit dem Rücken lehnte er sich an das Schapp neben der Koje und hielt den Kopf mit beiden Händen. Langsam und vorsichtig nahm er die Hände herunter. Es erstaunte ihn, daß die teuflischen Paukenschläger und die satanischen Trompeter nicht von neuem ihr mißtönendes Konzert begannen.
Nichtsdestoweniger schwankte die Welt um ihn herum beträchtlich. Das Nachspiel seines Saufabends war noch lange nicht durchgestanden. Die Welt! Er stieß einen verächtlichen Knurrlaut aus. Wovon, zum Teufel, redete er? Diese Kapitänskammer war nichts als eine erdrückende hölzerne Enge, da gab es nichts mehr, was noch irgendeine weitreichende Bedeutung gehabt hätte.
Ja, früher, bis vor kurzem, war er der gerissenste Bursche unter der Sonne gewesen. Da hatte er seinen Kopf noch zum Denken benutzt, und niemand hatte ihm das Wasser reichen können. Und von dieser Kapitänskammer aus hatte er begonnen, einen Teil der Welt zu regieren. Sein Einfluß war gewachsen und gewachsen. Eines Tages hätte sein Vermögen ausgereicht, um ihn aus der Abgeschiedenheit seiner Kammer ausbrechen und an das Licht der Öffentlichkeit treten zu lassen.
Mit seinem unermeßlichen Reichtum hätte er sich zum König von Korsika aufschwingen können.
Ein verdammter Bastard hatte ihm den Weg verbaut. Ein hirnloser Narr hatte das Ergebnis seiner Gedankenarbeit zerstört – mit einem lächerlich simplen Schachzug zerstört. Die Erkenntnis schmückte gallig bitter. Was nutzte alle Geistesarbeit, wenn sie durch rohe Gewalt oder Diebstahl zerstört werden konnte! Della Rocca legte die Handflächen auf das Schapp und schob sich behutsam davon weg. Es gelang ihm, sich auf beiden Beinen zu halten, doch das Dröhnen in seinem Schädel nahm wieder zu. Im Rhythmus seiner tapsigen Schritte schwoll es an und ab.
Er zwang sich, durchzuhalten. Er mußte diesen hinterhältigen Bastarden beweisen, daß er cleverer war als alle zusammen.
Die Worte hallten in ihm nach, und er verharrte jäh, als er das Schott eben geöffnet hatte.
… als alle zusammen!
Hölle und Teufel, daran hatte er überhaupt noch nicht gedacht! Zardo, dieser Mistkerl, hatte womöglich Komplicen gehabt. Das konnte bedeuten, daß sie sich ins Fäustchen lachten, weil sie inzwischen das Weite gesucht hatten – mit seinem Logbuch der Perlen!
Von plötzlich aufwallender Panik getrieben, stürmte della Rocca an Deck. Er kümmerte sich nicht um sein Kopf dröhnen, das jetzt einer unablässigen Folge von tosend heranrauschenden Flutwellen glich. Mit langen Sätzen rannte er über die Kuhl, beugte sich über die Backbordverschanzung und verspürte unendliche Erleichterung.
Die Zweimastschaluppe lag noch da.
Möglich also, daß Zardo doch keinen Komplicen gehabt hatte. Der Kerl hätte gut daran getan, noch in dieser Nacht mit der Schaluppe zu verschwinden. Andererseits ging es nicht von heute auf morgen, genügend brauchbare Kumpane zu finden, mit denen man eine Crew bilden konnte, die etwas taugte.
Das Wasser in der Bucht war noch einigermaßen kühl. Della Rocca hievte mehrere Pützen davon hoch und goß es sich über den Kopf, indem er sich weit nach außenbords beugte. Es war eine Wohltat. Das Dröhnen ließ nach. Angenehme Kühle durchdrang seine Gedanken, und er konnte wieder logische Überlegungen anstellen.
Alles in allem durfte er unbesorgt sein.
Immerhin war zu bezweifeln, daß es unter all den Kerlen auch nur einen gab, der ausreichend Grips hatte. Denn den brauchte man schon, wenn man mit dem Logbuch der Perlen etwas anfangen wollte. Die Ortsangaben, durch Ziffernkombinationen verschlüsselt, machten das Logbuch zum Buch mit sieben Siegeln. Die Zeichnungen allein waren für einen unwissenden Betrachter wertlos, denn er hatte ja keine Ahnung, welcher Küstenabschnitt auf der jeweiligen Buchseite abgebildet war.
Oder?
Möglich allerdings, daß einer der Kerle ein gutes Vorstellungsvermögen hatte und in der Lage war, sich anhand der Ortsskizzen zu erinnern, um welchen Platz an einer karibischen Küste es sich handelte. Eine solche Möglichkeit war jedoch in höchstem Maße unwahrscheinlich.
Im Verlauf seiner Jahre als Seefahrer hatte della Rocca immer wieder festgestellt, daß einfache Gemüter nicht fähig waren, sich in die kartographische Vogelperspektive hineinzudenken. Nach seinem Ermessen gab es in der gesamten Mannschaft keinen einzigen Kerl, der eine solche Denkfähigkeit hatte.
Zum hundertsten Male überdachte der Korse seine Sicherheitsmaßnahmen hinsichtlich der Perlenverstecke und gelangte zu dem Schluß, daß seine Kerle viel zu blöde und stur waren, um ihn zu übertölpeln. Noch viel weniger würden sie es fertigbringen, die Geheimzahlen zu entschlüsseln. Lesen, Schreiben und Rechnen waren Künste, die sie nicht gelernt hatten.
Eine Ausnahme bildeten lediglich Moleta, der Bootsmann, und Manoel Ribas, der Lotse auf der „Bonifacio“.
Auf Ribas konnte er sich verlassen, ihn würde er auch mitnehmen, wenn er von hier für immer verschwand. Am besten sollte das noch in der nächsten Nacht geschehen, und zwar mit der Zweimastschaluppe.
Auf Moleta konnte er getrost verzichten, dem durchtriebenen Kerl traute er sowieso nicht über den Weg. Steckte der Bursche vielleicht sogar mit Zardo unter einer Decke? Zwar hatte er ihn mit aufgehängt, aber das konnte ebensogut Tarnung gewesen sein. Klar, auf diese Art und Weise hatte Moleta seinen Mitwisser leicht und elegant beseitigt.
Der Korse begriff nicht, wie absurd seine Gedankengänge waren. Noch viel weniger erkannte er, wie unendlich weit er davon entfernt war, das Verschwinden des Logbuchs auf andere Weise zu erklären. Beinahe starrsinnig war er darauf fixiert, den oder die Schuldigen innerhalb seiner Mannschaft zu suchen.
Nur in den eigenen Reihen, davon war er überzeugt, konnte überhaupt jemand wissen, daß er an verschiedenen Stellen ein Vermögen an Perlen gehortet hatte. Um so mehr war er jetzt entschlossen, reinen Tisch zu machen, bevor ein Mitwisser heimlich mit der Schaluppe verschwand. Verdächtig war da in erster Linie Moleta, der Hundesohn, der wahrscheinlich wie kein anderer wild darauf war, die Perlenverstecke zu plündern.
Della Rocca kippte sich einen letzten Eimer Wasser über den Kopf, wandte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Verschanzung. Es galt, einen geeigneten Weg zu finden, um rasch und ohne Komplikationen die eigenen Zelte hier abzubrechen.
Nun, da sein Kopf wieder schmerz- und dröhnfrei war, brauchte der Korse nicht einmal lange zu überlegen. Im Handumdrehen hatte er die richtige Idee gefunden. In Gedanken beleuchtete er den Einfall noch einmal von allen Seiten und war dann sicher: Es würde reibungslos funktionieren.
Ein breites Grinsen malte sich in die Züge della Roccas.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив