Etliche Männer schleppten ihn und brachten ihn in die Nähe des Bambusturmes, wo sie ihn auf den Boden stellten.
Der Stier war schwarz mit großen aufgemalten Augen, silbern schimmernden Hörnern und einem gebleckten Gebiß, das freundlich zu grinsen schien. Ein sanftmütiger Stier also. Um den Hals trug er eine reich verzierte Decke, das gleiche über dem Hinterleib.
Zwei Männer gingen auf den Stier zu und hantierten an ihm herum. Eine Öffnung entstand im Stierleib, und in dem Halbdunkel erkannte man Bambusstangen und Felle. Das Gerüst verlieh dem Stier Halt und ließ ihn ungewöhnlich groß erscheinen.
Was es damit allerdings auf sich hatte, wußten die Seewölfe nicht, sie sollten es aber bald erfahren.
Vor der Bale wurden immer mehr Opfergaben niedergelegt. Die jungen Mädchen begannen laut zu beten.
Anschließend hielt der Balian eine feierliche Ansprache, breitete die Arme aus und zeigte zu dem Pagodenwald hinüber, wo die kleinen Geistertempel geheimnisvoll herüberschimmerten.
Dann wurde es still, so still, als hätte die ganze Insel Bali den Atem angehalten.
Fasziniert sahen die Seewölfe auf eine weitere Prozession, die sich dem Bambusturm und dem Stier näherte.
Sechs farbenprächtig gekleidete ältere Männer trugen den toten Priester Atun. Seine Leiche war in ein weißes Gewand gehüllt und mit Bändern umwickelt.
Stumm und mit mechanischen Schritten wurde der Tote in die offene Bale getragen und ebenso lautlos auf einen quadratischen Stein gelegt.
Es war ein merkwürdiges Zeremoniell, fanden die Seewölfe, denn statt mit den Totenfeierlichkeiten fortzufahren, schien es, als hätte jedermann das Interesse an dem toten Priester verloren.
Die Insulaner gingen herum und verteilten Früchte, setzten sich auf den Boden und aßen. Auch die Angehörigen, die in einer Gruppe eng beisammen waren, nahmen allerlei Speisen und Getränke zu sich.
Auch die Seewölfe kriegten wieder ihren Teil, und kaum jemand war in der Lage, noch einen Bissen zu schaffen.
Die Speisung dauerte nochmals eine Stunde, dann war sie beendet, und die Totenfeier ging weiter und nahm ihren Lauf.
Jetzt ertönten laute Gebete, Sprechgesänge und fremdartige, seltsam hohl klingende Musik.
Die Priester gingen auf und ab, der Balian trug eine Schale mit geweihtem Wasser in seinen Händen und benetzte damit den Toten. Dazu sprach er unverständliche Worte. Dann stellte er die Schale auf den Boden und gab den anderen Priestern ein Zeichen mit der Hand.
Daraufhin näherten sich die niedrigen Priester dem Leichnam und wickelten ihn aus dem weißen Gewand, bis sein eingefallenes Gesicht sichtbar wurde.
Die nächsten Angehörigen traten feierlich und hölzern hinzu, blickten in das welke Antlitz des Toten, wie es ihre Pflicht war, und zogen sich dann etwas zurück.
Das Tuch wurde wieder zurückgeschlagen und über den Leichnam Atuns eine bunte Decke gebreitet. Auch die wurde von dem Balian noch einmal mit ein paar Spritzern Wasser geweiht.
„Ich glaube, sie tragen die Leiche jetzt in den Stier“, flüsterte Hasard seinen Männern zu, die mit großen Augen auf das seltsame und ungewohnte Ritual sahen und nie wußten, wie es weiterging.
„Und dann?“ fragte Dan leise zurück.
„Wird er verbrannt, nehme ich an, einschließlich Turm und Stier.“
Der Tote wurde tatsächlich aufgehoben und unendlich vorsichtig in die Öffnung des hölzernen Stieres gelegt. In einem feierlichen Akt wurde die klappenähnliche Öffnung dann verschlossen.
Nun strömten immer mehr Männer hinzu, stellten sich um den Stier herum und hoben ihn auf ein leises Kommando hoch. Während die Priester laut sangen, wurde der Stier mit dem Toten zum Bambusturm getragen und dort wieder abgesetzt.
Um den Turm herum war Holz aufgeschichtet worden, und es wurde immer noch mehr herangetragen. Auch trockene Palmwedel wurden gebracht und so hoch aufgeschichtet bis nur noch der grinsende Kopf des Stieres und seine großen, weithin leuchtenden Augen zu sehen waren, die starr auf die Menge blickten.
Wieder murmelte der Balian unverständliche Worte, weihte den Stier und den Verbrennungsturm und nahm dann aus einer Schale glühende Holzkohle. Sechs Becken wurden gefüllt, aus denen leichter Rauch wehte.
Sechs niedere Priester erhielten die Schalen und nahmen rings um dem Stier Aufstellung.
Dann folgte wieder Gesang, der Balian entfernte sich, und in den Totengesang stimmte der ganze Chor der Insulaner ein, bis der Gesang mächtig anschwoll und sogar das Rauschen des Meeres überlagerte.
Der Balian ging direkt auf Hasard zu und verneigte sich leicht. Er versuchte Hasard den Sinn der rituellen Handlung zu erklären und sagte sinngemäß: „Atun wird jetzt verbrannt. Zum Priestergesang wird der Todesturm entzündet, und die Schlange Naga wird die Seele des Priesters mit in den Himmel nehmen. Aber Atun ist noch nicht frei. Er ist erst dann rein und befreit, wenn seine Asche in der folgenden Nacht dem Meer übergeben wird.“
Hasard und auch die Seewölfe, die in seiner unmittelbaren Nähe standen, hatten begriffen.
„Dann ist er frei für alle Ewigkeit“, sagte Hasard.
Doch der Balian schüttelte den Kopf.
„Nein, noch nicht. Atun ist erst dann frei, wenn das Ritual nach vierzig Sonnenaufgängen wiederholt wird.“
„Das ganze Ritual?“ fragte Hasard mit einer allumfassenden Bewegung seiner Hände.
Der Balian erklärte umständlich, daß das Ritual auf Palmenblättern nachvollzogen würde. Auf die Blätter würden Abbilder gemalt und die Handlung noch einmal nachvollzogen. Erst dann sei Atun wirklich frei und würde in die höchsten Gefilde eingehen.
Der Seewolf erfuhr auch, daß die Angehörigen und die Bewohner des Dorfes augenblicklich noch unrein seien, solange die Handlung nicht zum zweiten Male nachvollzogen wäre. Erst danach wäre jedermann frei von Verunreinigung.
Der Balian fragte, ob sie verstanden hätten, und als Hasard das bejahte, verneigte er sich wieder und ging davon.
„Das ist noch komplizierter als bei den Chinesen“, sagte Dan. „Das kann sich ein Fremder kaum vorstellen.“
„Nicht mehr reden jetzt“, sagte Hasard. „Die für die Insulaner heilige Handlung nimmt ihren Anfang!“
Die Seewölfe schwiegen, als die Priester, die bis dahin mit den Schalen um den Holzstoß herumgestanden hatten, ein Zeichen erhielten.
Glühende Holzkohle ergoß sich wie Blut über den Stier, den Turm und das angehäufte Holz.
Es begann sogleich zu brennen, kleine Flammen schlugen hoch, wurden größer und größer, und bald darauf brannte der Turm wie eine riesige Fackel.
Fauchend fraß sich das Feuer weiter, bis es den Stier einhüllte, aus dessen Schädel jetzt helle Flammen schlugen.
Der Gesang wurde noch lauter, und eine seltsame Ergriffenheit lag über dem Platz in Strandnähe.
Von überall her liefen Kinder zusammen und sangen mit.
Etwas später stand der Turm lichterloh in Flammen, und nun wurde die brennende Fackel noch größer, die den Stier und den darin eingebetteten Priester gierig verschlang. Es knackte und prasselte, die erhitzte Luft fauchte über die Prozession hinweg. Es schien, als würde der Priester bis in alle Ewigkeit brennen und seine Seele durch die Glut immer mehr geläutert.
Langsam stürzte das große Gerüst in sich zusammen. Funken stoben davon und prasselten auf die Körper der Umstehenden. Aber seltsamerweise schien niemand die Glut zu spüren, wie es auch der Fall bei den Feuertänzern gewesen war.
Zwei Stunden lang brannte es, dann blieb ein glühender Aschehaufen übrig, der langsam in sich zusammenfiel.
Von