Roy Palmer
1.
Totenstille hatte sich auf die Insel Pirates’ Cove gesenkt. Der Kampf war so plötzlich unterbrochen worden, wie er begonnen hatte. Eigentlich hätte der Seewolf mit dem Stand der Dinge zufrieden sein können – die „San Carmelo“, Mardengos Galeone, hatte sich mit starker Schlagseite zum Korallenriff zurückgezogen, Gato hatte mit seinem Einmaster ebenfalls die Flucht ergriffen, und Oka Mama und ihre Meute hatten sich nach dem mißglückten Versuch, die „Isabella IX.“ zu entern, in das Dickicht am Fluß zurückgezogen.
Doch es gab keinen Grund zum Frohlocken für die Männer der „Isabella“. Carberry, Roger Brighton und Sam Roskill waren spurlos verschwunden. Im Handgemenge waren sie außenbords geflogen und seitdem nicht mehr gesehen worden. Wo steckten sie?
Hasard zögerte nicht und ließ die große Jolle abfieren. Er wollte selbst an Land gehen und nach den vermißten Männern suchen – auch auf das Risiko hin, erneut von den Piraten überfallen zu werden, wie es bei der ersten Erkundung der Insel der Fall gewesen war.
Die kleine Jolle der „Isabella“ war im Gefecht beschädigt worden, als einer von Mardengos pulvergefüllten Tontöpfen auf dem Hauptdeck explodiert war. Doch auch die achtriemige Jolle war ramponiert, wie sich erst jetzt herausstellte. Ferris Tucker, Al Conroy und Blacky begannen sofort damit, sie wieder instand zu setzen. Sie arbeiteten wie die Besessenen, und auch ihren Mienen war die Sorge über das Schicksal abzulesen, das den Profos, Roger und Sam getroffen hatte.
Keiner der Männer gab sich irgendwelchen Illusionen hin: Es sah böse aus für die drei Vermißten, vielleicht waren sie ertrunken oder im Wasser von den Piraten getötet worden.
Ein Einmaster und ein paar Boote der Piraten dümpelten noch unbemannt im Wasser und wurden von der Strömung des Flusses aufs Meer hinausgetrieben. Mit mindestens einem Boot aber hatten sich Oka Mama und die Kerle zum Ufer in Sicherheit gebracht. Der Rest der Bande hatte sich schwimmend gerettet.
Von Carberry, Roger und Sam gab es keine Spur. Hasard dachte, was auch seinen Männern durch den Kopf ging: Waren die drei noch am Leben, dann mußten sie wenigstens ein Zeichen geben. Oder aber sie kämpften an Land gegen die Freibeuter, die sie zu packen versuchten.
Aber kein Laut, kein Kampfgeräusch, kein Ruf war zu vernehmen. Die Stille war lähmend – und sie schien das Schlimmste zu verheißen.
Noch bevor Ferris, Al und Blacky mit dem Ausbessern der Schäden an der großen Jolle fertig waren, registrierte Dan O’Flynn auf beiden Seiten des Flusses Bewegungen im Gestrüpp.
„Achtung“, sagte er. „Da sind sie wieder.“
Hasard ließ die Kanonen und Drehbassen besetzen, Shane und Batuti hielten Pfeil und Bogen bereit, Ferris Tucker fingerte nach der einen Flaschenbombe, die er noch zur Verfügung hatte. Doch es gab kein sichtbares Ziel – der Feind zeigte sich nicht offen. Nur hin und wieder tauchte zwischen den lappigen Blättern der Mangroven ein Gesicht oder ein Arm auf, verschwand aber sogleich wieder.
Es blieb ruhig, die Piraten schossen nicht auf ihren Gegner. Die Seewölfe sollten nur wissen, daß man jederzeit aus dem Hinterhalt auf sie feuern konnte, was immer sie auch taten.
„Das vereitelt meinen Plan“, sagte Hasard mit verbissener Miene. „Wir hätten schneller sein müssen. Wenn wir die Jolle jetzt abfieren, schießen die Hunde die Bootscrew zusammen.“
„Verdammt und zugenäht“, sagte Ben Brighton. „Wir sitzen in der Falle. Aber wir müssen etwas unternehmen.“
„Warum versuchen wir nicht durchzubrechen?“ wollte Old O’Flynn wissen. „Natürlich fängt der Hurensohn von einem Piratenkapitän dann sofort an zu feuern, aber er ist flügellahm, und wenn wir es geschickt genug anstellen, schießen wir ihm seinen verfluchten Kahn unter dem Hintern weg.“
Hasard schüttelte den Kopf. „Auch das ist zu riskant, Donegal. Mardengo kennt sich im Riff bestens aus und kann problemlos manövrieren. Wir aber haben nicht genügend Bewegungsfreiheit. Außerdem müssen wir gegen den Nordwind kreuzen – eine weitere Behinderung. Die Kerle würden uns von drei Seiten unter Beschuß nehmen, sobald wir den Fluß verlassen. Seht doch!“
Er wies zum Riff. Mardengo hatte das Beiboot der „San Carmelo“ abfieren lassen. Ein paar Kerle pullten zu dem herrenlosen Einmaster, der mittlerweile durch die Strömung fast bis an die Korallenbarriere befördert worden war. Zwei von ihnen enterten über, die anderen kehrten zu der Galeone zurück.
Unterdessen hatte Mardengo Gato signalisiert. Gato manövrierte auf den Einmaster zu, ging längsseits und schickte ebenfalls zwei Männer als Besatzung hinüber. Die Einmaster lösten sich wieder voneinander, Gato steuerte nach Osten, das andere Schiff bewegte sich nach Westen. Beide Passagen, die zwischen der Insel und dem Riff zur See hin bestanden, waren somit abgesperrt.
Der Seewolf hatte recht, es war zu riskant, jetzt den Durchbruch zu wagen. Er konnte auch nicht versuchen, mit der „Isabella“ durch das Riff zu segeln. Mit Sicherheit würde sie auflaufen, und dann war alles aus, denn die scharfen Korallen würden auch einen soliden Eichenholzrumpf mühelos aufschlitzen.
Mardengo indes durfte sich zwischen den Bänken, die teilweise aus dem Wasser aufragten, sicher fühlen. Niemand konnte ihn dort behelligen.
Also war die „Isabella“ wirklich gefangen und konnte nicht entkommen. Hasard wägte die Lage noch einmal genau ab. Trotz der guten Armierung der „Isabella“ und ihrer eigentlichen Überlegenheit gab es keine Chance, die Situation war aussichtslos.
Er biß sich auf die Unterlippe. Es mußte einen Weg geben, die Piraten zu überlisten und Carberry, Roger und Sam zu helfen, falls überhaupt noch der Schimmer einer Hoffnung bestand, daß sie am Leben waren.
„Ferris“, sagte der Seewolf. „Hör auf, an der Jolle herumzuflicken, das hat jetzt keinen Zweck. Ich habe eine andere Idee.“
Verblüfft und ratlos zugleich blickten die Männer der „Isabella“ zu ihrem Kapitän. Was hatte er vor? Keiner von ihnen konnte es erraten. Daß Hasard jedoch einen konkreten Plan hatte, sahen sie ihm an. Seine Miene veränderte sich und wurde hart und verwegen. In seinen eisblauen Augen schienen mit einemmal Funken zu tanzen. Das war das unverkennbare Zeichen: Er gab sich nicht geschlagen. Er hatte vor, Mardengo noch einmal das Fürchten zu lehren.
Carberry öffnete vorsichtig die Augen. Es war kein Vorteil, das Bewußtsein wiederzuerlangen, er verspürte stechende Schmerzen im Hinterkopf und in der linken Schulter. Sofort konnte er sich an alles erinnern: Die Alte, diese wilde Furie, hatte im Wasser wie verrückt mit einem Messer auf ihn eingestochen. Er hatte trotzdem bis zum Ufer des Flusses schwimmen können, aber hier hatte man ihn von hinten niedergeschlagen.
Er wollte sich aufrichten, aber die Läufe von drei Musketen schoben sich in sein Blickfeld. Er schaute auf und sah sich von dreckig und gemein grinsenden Kerlen umringt. Es waren vier, der eine hatte einen Säbel, den er drohend hin und her bewegte.
„Ihr Pestwanzen“, sagte der Profos. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Ihr Schlickfresser, ihr triefäugigen Prielwürmer. Ihr bildet euch auch noch was darauf ein, einen Seemann von hinten umzuhauen, was, wie?“
Sie antworteten nicht. Er musterte sie und fragte sich, aus welcher Ecke der Welt sie wohl stammen mochten. Mardengos Bande, soviel wußten die Seewölfe bereits, war ein kunterbunt zusammengewürfelter Haufen von Kerlen aus aller Herren Länder. Engländer schienen aber nicht dabeizusein. Deshalb versuchte er jetzt, sie auf spanisch anzusprechen.
„Ihr Ratten“, sagte er. „Nehmt eure Schießeisen zur Seite, dann zeige ich euch, wie ein Profos kämpft. Na, wird’s bald?“
Einer der Piraten stieß einen Fluch aus, drehte seine Muskete