„Hölle und Teufel“, entfuhr es Batuti. „Müßten uns doch längst entdeckt haben. Inselmenschen kennen ‚Isabella‘ wieder – oder nicht, Ssör?“
„Ruhe an Deck“, sagte Carberry. „Habt ihr den Verstand verloren, daß ihr hier so ’rumbrüllt, ihr triefäugigen Seegurken?“
Hasard hatte, während die „Isabella“ in die Bucht einlief, seinen Blick nicht von dem zerstörten Dorf am Wasser und den gestrandeten Auslegerbooten genommen. Jetzt wandte er sich zu seinen Männern um. Seine Miene hatte sich verändert. Sie war ernst geworden.
„Es gibt zwei Möglichkeiten“, sagte er. „Entweder lebt jetzt ein anderer Stamm auf Hawaii, der uns nicht wohlgesinnt ist. Oder es ist etwas passiert.“
„Was Schlimmes?“ fragte Big Old Shane. „Verdammt, du meinst doch wohl nicht, im Zusammenhang mit der Riesenwelle und …“
„Die Tsunami kann sie unmöglich alle ertränkt haben“, unterbrach Siri-Tong den graubärtigen Riesen. „Entschuldige, Shane, aber das kann ich mir nicht vorstellen. Die Insulaner sind zu erfahren im Umgang mit den Naturgewalten, als daß sie sich derart übertölpeln lassen würden.“
„Aber was ist dann geschehen?“
„Das fragen wir uns alle“, meinte Old OFlynn.
Sie alle ließen ihren Blick wieder über das Ufer der Bucht schweifen. Aber dort regte sich nichts – weder bei den eingestürzten, zermalmten Pfahlbauten noch bei den Booten, noch irgendwo im Dickicht. Keine Menschenseele zeigte sich, um die Seewölfe und die Rote Korsarin so freudig, wie es nur die Polynesier vermochten, zu begrüßen.
„Mann“, sagte der alte O’Flynn. „Ich krieg da so ein mulmiges Gefühl. Das bedeutet nichts Gutes, Leute. Es liegt Unheil in der Luft.“
„Das merkst du jetzt erst?“ Carberry gab einen undeutlichen, grunzenden Laut von sich. „Man braucht kein Hellseher zu sein, um das zu spüren.“
Hasard, der sich auch wieder umgedreht hatte und sein Gesicht dem Ufer zugewandt hielt, hob plötzlich die Hand. Im selben Augenblick registrierte auch Siri-Tong die Bewegung oben am Hang hinter dem Pfahlhüttendorf. Carberry kniff die Augen mißtrauisch zusammen, Dan OFlynn murmelte etwas Unverständliches, Ferris Tucker hob den Kieker ans Auge.
Etwa einen Atemzug darauf rief Bill, der Moses, über ihren Köpfen: „Deck, da ist jemand! Er rutscht den Abhang ’runter. Das ist ja ein Mädchen!“
Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als sie alle den verzweifelten Schrei vernahmen, der von den bebauten Inselterrassen zu ihnen herüberwehte.
2.
Alewa hatte in dem Moment, in dem sie das Gleichgewicht verloren hatte und rücklings den Hang hinuntergestürzt war, ihren Körper zusammengekrümmt und die Arme schützend über den Kopf gelegt. Sie überrollte sich zweimal wie eine Katze, gewann dann mehr Stabilität, streckte die Beine aus, hob den Oberkörper an und legte in beinah sitzender Haltung den Rest ihrer Rutschpartie zurück.
Der Rock aus dunkelrotem Tuch, den sie sich um die Hüften geschlungen hatte, verschob sich dabei. Sie war fast völlig nackt, als sie auf der nächsten Terrasse landete. Ihre Knie knickten ein, sie atmete schwer und kauerte einen Augenblick lang da, rappelte sich dann aber schnell wieder auf, weil sie über sich einen Fluch in der fremden Sprache vernommen hatte.
Sie blickte auf – und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Richard, Marcel und Louis – die drei Kerle hatten sich am Rand des Plateaus auf ihren Hosenboden gesetzt und trafen gerade Anstalten, ebenfalls die Abwärtsfahrt anzutreten.
„Los, wir kriegen sie doch noch!“ rief Louis. „Beeilen wir uns!“
„Gnade dir Gott, wenn wir dich packen!“ brüllte Marcel und schüttelte die Faust zu Alewa hinunter.
Alewa begann zu laufen, zupfte mit fahrigen Bewegungen ihren Rock zurecht, schluchzte vor Panik auf, stolperte fast, fing sich wieder und hetzte quer über einen Acker voller Bataten. Ihr vor Angst flakkernder Blick suchte nach einem schützenden Dickicht, aber ausgerechnet hier gab es kein Gesträuch, in dem sie untertauchen und sich den Augen ihrer Verfolger entziehen konnte.
Pele, Pele, dachte sie immer wieder, warum stehst du mir nicht mehr bei? Was habe ich getan, daß du mich so strafst?
Louis war als erster der drei Männer den Hang hinunter, zückte seine mit Perlmutteinlagen verzierte Schnapphahnschloß-Pistole, spannte den Hahn und legte auf das flüchtende Mädchen an. „Na warte, du Miststück“, murmelte er. „Dich erwische ich schon. Und wenn wir dich richtig ’rangenommen haben, wirst du uns schon verraten, in welche Richtung die anderen geflohen sind.“
Er visierte ihre Gestalt über den Lauf der Waffe an, hielt die Pistole ganz still und krümmte den Zeigefinger um den Abzug. Der Sperrmechanismus gab den Hahn frei, der Funken sprühte, die Ladung zündete. Donnernd brach der Schuß. Eine weißliche Qualmwolke puffte hoch, und vor der Mündung seiner Pistole konnte Louis die rotgelbe Feuerzunge blitzen sehen.
Alewa schrie und stürzte.
Heiß war etwas an ihrer linken Wade vorbeigestrichen. Die Kugel hatte sie nicht getroffen, sondern war in den Batatenacker geschlagen, aber im ersten Entsetzen hatte sie wirklich angenommen, es habe ihr Bein aufgerissen. Sie fiel vornüber, schlug hart auf und wälzte sich auf dem Erdboden. Sie weinte und sah durch einen Schleier von Tränen Louis, der vor Richard und Marcel auf sie zustürmte, das Grinsen des Siegers schon im Gesicht.
Benommen erhob sie sich wieder, rannte nach links, dann nach rechts und schlug Haken wie ein verstörtes Tier. Louis lachte. Er hob die leergeschossene Schnapphahnschloß-Pistole und warf sie nach Alewa. Die Waffe prallte Alewa gegen die linke Hüftseite. Alewa stöhnte auf, mehr vor Panik und Todesangst als vor Schmerz.
Wieder taumelte sie und drohte hinzufallen.
„Ich hab sie!“ rief Louis triumphierend. „Jetzt geht sie uns nicht mehr durch die Lappen!“
Er tat zwei wahre Panthersätze, brachte sich neben das Mädchen und hielt sie am linken Arm fest. Er riß sie zu sich heran, und sie strauchelte und stürzte, klammerte sich aber an ihm fest und zerrte ihn so mit sich zu Boden. Louis stieß eine ganze Reihe von üblen Verwünschungen aus. Er wollte Alewas langes schwarzes Haar packen und ihr Gesicht auf diese Weise dicht zu sich heranziehen, aber sie ließ ihn plötzlich los, spreizte die Finger und zog ihm die Fingernägel quer durchs Gesicht.
Entsetzt fuhr er zurück. Er hatte nicht mehr mit einer Attacke gerechnet, deshalb war er um so überraschter und lockerte für einen Moment seinen Griff um ihren linken Arm. Alewa wußte die Chance zu nutzen. Sie befreite sich mit einem Ruck und war sehr schnell wieder auf den Beinen.
Noch ehe Louis aufspringen konnte und bevor Marcel und Richard heran waren, war Alewa über das langgestreckte, bebaute Plateau gelaufen und brachte sich über die grasbewachsene Umrandung hinweg. Sie kugelte sich wieder wie eine Katze zusammen und rollte den Hang hinab. Ihre Drehungen wurden immer schneller. Sie war schmutzig, ihr Rock war halb zerfetzt, es brauste und toste in ihrem Kopf, während sich die Welt wie verrückt um sie zu drehen schien. Sie glaubte, jeden Augenblick den Verstand zu verlieren, aber sie wußte, daß sie trotzdem mit ihren Händen und Füßen und mit den Zähnen weiter gegen diese grausamen Kerle kämpfen würde – bis sie sie umbrachten.
Natürlich hatte der Seewolf auf die Entdeckung des braunhäutigen, halbnackten Mädchens hin sofort sein Spektiv ans Auge gehoben und hatte sowohl die drei weißen Verfolger als auch die Pistole in der Faust des einen erspäht.
„Zeug wegnehmen! Jolle abfieren! Fünf Mann mit mir! Wir müssen dem Mädchen helfen!“ Seine Befehle schallten über Deck. Carberry hatte sich bereits umgedreht, um auf die Kuhl hinunterzuhasten und die Männer anzutreiben. Ben Brighton leitete die erforderlichen Manöver. Ferris Tucker, Shane, die beiden O’Flynns und Smoky folgten als erste dem Profos, dann eilten auch die anderen los, und plötzlich schien auf der „Isabella“ der Teufel los zu sein.