Im Nu hingen die meisten Seewölfe in den Wanten, um sich das merkwürdige Gebilde anzusehen, doch die zweite Überraschung folgte sofort.
Auf dem Wrack stieg an einer auf Deck hochkant gestellten Rah die holländische Flagge hoch. Auf der Backbordseite wurde gleichzeitig eine Qualmwolke sichtbar, und zur grenzenlosen Verblüffung der Seewölfe klatschte eine Eisenkugel vor dem Bug der „Isabella“ in die See – das allgemeine Zeichen zum Stoppen.
Hasard sah ungläubig zum Land hinüber. Dieser abgebrochene Zweimaster erfrechte sich, der „Isabella“ einen Schuß vor den Bug zu setzen. Das war nicht hur unglaublich, das war einfach eine bodenlose Frechheit, eine Unverschämtheit.
Carberry, der mittlerweile wieder auf dem Achterdeck war, schwoll am Hals eine Ader an, ein sicheres Zeichen dafür, daß ihm spontan die Galle überlief und er sich nur noch sehr mühsam in der Gewalt hatte. Es war ein plötzlich ausbrechender Jähzorn, der ihn erfaßte und knallrot anlaufen ließ.
„Dieses Rübenschwein zerreiße ich in der Luft!“ schrie er und sah den Seewolf wild an. „Sollen wir ihm die Flagge wegschießen, Sir?“
„Nein“, sagte der Seewolf zu seiner großen Überraschung. „Ich habe mir das eben überlegt, Ed. Wir könnten diesen Holländer mit einer Breitseite in einen Trümmerhaufen verwandeln, nur so im Vorbeisegeln, und das weiß er auch genau. Er wollte nichts weiter als uns warnen. Etwas anderes anzunehmen; wäre unsinnig.“
Hasard hatte gerade das letzte Wort gesprochen, als es drüben schon wieder aufblitzte, die Flagge schnell gedippt wurde, auf dem Wrack Leute winkten und gleichzeitig die zweite Kugel, ein Sechspfünder vermutlich, weit vor dem Bug des Rahseglers ins Wasser klatschte.
„Kein Zweifel, eine Warnung“, sagte auch der Bootsmann Ben Brighton und blickte den Seewolf an.
Hasard nickte. „Wir sehen uns diese Leute einmal an“, sagte er. „Es sieht so aus, als brauchen sie Hilfe. Auf die Stationen! Wir laufen die Bucht an. Die Kanonen gefechtsbereit halten, Tiefe loten und aufpassen!“
Für Carberry gab es endlich etwas zu tun, und so überzog ein hartes Grinsen sein Narbengesicht. Endlich konnte er wieder nach Herzenslust loswettern.
„Hopp, hopp, ihr lahmen Krüppel!“ donnerte seine Stimme über das Deck. „Über Stag und backbrassen! Zeigt mal, ob ihr das überhaupt noch könnt! Habt schon lange keinen Tampen mehr in der Hand gehabt, was, wie? Willig, willig, ihr triefäugigen Kanalratten! Glotzt nicht den Wind aus den Segeln, und wenn auch nur ein einziger Lappen bei dem Manöver killt, dann werde ich dafür sorgen, daß eure Affenärsche im Großmars ebenfalls killen!“
Er rieb sich zufrieden die Hände, als die Männer mit dem Manöver begannen, als die ersten Schweißperlen auf den Gesichtern glänzten und harte Fäuste Schoten und Brassen packten.
Unterdessen blickte Hasard zu dem Holländer hinüber. Außer dem halben Wrack war weit und breit kein anderes Schiff zu sehen. Auch an Land rührte sich nichts. Nur die Männer auf dem Zweimaster, die das Manöver der „Isabella“ verfolgten, liefen hin und her, winkten und schrien.
Merkwürdig, überlegte er, die Holländer waren doch ausgezeichnete Schiffsbauer und hatten meist erstklassige Zimmerleute an Bord. Sollten die nicht imstande sein, ihr lahmes Schiffchen ohne fremde Hilfe wieder aufzuriggen? Nach einer Falle sah es jedenfalls nicht aus, aber man konnte nie wissen.
Vielleicht hatten sie auch die Absicht, ihren zerfetzten Zweimaster gegen die „Isabella“ zu tauschen. Er beschloß jedenfalls, auf der Hut zu sein und sich nicht überrumpeln zu lassen.
Er sah wie Al Conroy zusammen mit Batuti und Blacky an den Culverinen hantierte und etwas später auch die vorderen und achteren Drehbassen lud. Der Stückmeister Conroy war da ein besonders vorsichtiger und mißtrauischer Mann. Zusätzlich zu seiner Armierung hatte er auch noch eins der tragbaren Bronzegestelle mit einem der chinesischen Brandsätze geladen, um allen Eventualitäten vorzubeugen.
Nachdem die Segel ausnahmslos im Gei hingen, trieb die letzte Brise die „Isabella“ schräg versetzt dem Land entgegen.
Von dem holländischen Schiff löste sich ein Boot, besetzt mit vier Männern, die wie rasend pullten, und die Strecke schon halb geschafft hatten, als auf dem Rahsegler der Anker fiel.
Die Seewölfe lehnten am Schanzkleid und sahen den Holländern entgegen, die jetzt heran waren.
Auf Hasards Anordnung hatte Carberry die Jakobsleiter ausbringen lassen, und jetzt wartete der Profos mit verschränkten Armen und mißtrauisch nach unten gerichteten Blicken.
Die vier Holländer trugen nur ausgefranste Hosen, die bis zu den Waden reichten, ihre Oberkörper waren nackt und von der Sonne verbrannt. Einer von ihnen stand im Boot und sah zur „Isabella“ hoch, während die anderen die letzten Yards pullten.
„Ist es gestattet an Bord zu gehen, Sir?“ fragte der aufrecht stehende Mann auf Englisch mit holländischem Akzent.
„Woher wissen Sie, daß wir Engländer sind?“ fragte Hasard, der neben dem Profos stand.
Der Holländer winkte ab. Dabei lachte er.
„Ich lasse mich nicht täuschen, Sir, ich kenne die neuartige Bauweise der Engländer. Dies ist ein englisches Schiff, darauf wette ich ein Faß Rotwein.“
„Entern Sie auf!“ sagte Hasard knapp. Der Mann hatte ein ehrliches Gesicht, hellblonde Haare und blaue Augen, die wach und neugierig in die Welt blickten.
„Ihr bleibt im Boot und wartet!“ befahl der Holländer seinen Männern, die ruhig nickten.
Auch das imponierte dem Seewolf. Er ließ nicht gleich die ganze Horde an Bord stürmen, sondern gab sich zurückhaltend und bescheiden.
„Lassen Sie Ihre Männer aufentern“, sagte Hasard. Von den vier Leuten drohte nicht die geringste Gefahr. Was wollten sie gegen zwanzig Seewölfe schon ausrichten! Der Profos allein hätte die Burschen nach Strich und Faden weichgeklopft.
Der Blonde gab Hasard die Hand, ein kräftiger Händedruck, wie der Seewolf fand, nickte den anderen zu und musterte schnell das blitzsaubere Deck und die Männer.
„Mein Name ist de Haas, Pit de Haas“, sagte er, „ich bin der Bootsmann von diesem Wrack da.“
Hasard gab sich kühl und verbindlich.
„Killigrew“, sagte er kurz. „Ist es bei Ihnen üblich, daß man den Bootsmann schickt? Oder ist der Kapitän krank?“
„Augenblicklich haben wir keinen Kapitän, Sir, der ist sozusagen verhindert. Ich möchte mich für den Vorfall von vorhin entschuldigen, aber ich sah keine andere Möglichkeit, um Sie zum Beidrehen zu bewegen.“
Hasard wartete ab. Er sah, daß die drei anderen zwar neugierig das Schiff anstarrten und die Leute musterten, aber es war eben nur die übliche Neugier. Auch trug keiner von ihnen eine Waffe, wie er sofort feststellte. Niemand hatte eine Pistole im Hosenbund.
„Was führt Sie zu mir, Bootsmann?“ fragte der Seewolf. „Ich nehme an, Sie brauchen Hilfe.“
„Nein, das ist es nicht, Sir. Wir werden zwar eine Weile zu tun haben, aber mit unseren Arbeiten werden wir selbst fertig. Das einzige was uns fehlt, ist eine Handvoll großer Nägel, aber es geht zur Not auch ohne sie.“
Der Seewolf lächelte spöttisch und sah den Bootsmann an. „Sie werden uns nicht wegen dieser Handvoll Nägel gestoppt haben, nehme ich an. Weshalb dann, wenn Sie nicht einmal Hilfe brauchen?“
Er blickte in ein offenes und ehrliches Gesicht.
„Ich möchte Sie warnen, Sir“, sagte der Holländer schlicht. „Sie segeln dicht an der Küste entlang, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis man Sie überfallen wird. Zwar sieht Ihre ‚Isabella‘ wie ein Spanier aus, aber mich kann man nicht täuschen, ich