„Sir John!“
Der große scharlachrote Papagei floh mit erschrockenem Flügelschlag von der Mitte der halb gedeckten Frühstücksback und landete auf dem Schapp im hintersten Winkel der Kammer. Dort legte er seine blau, grün, gelb und rot gemusterten Schwingen glatt, wandte dem Seewolf den Rücken zu und drehte lediglich den Kopf mit vorwurfsvoll rollenden Knopfaugen.
„Solche Worte wirst du ihnen nicht beibringen!“ rief Hasard lachend.
„Miese Kakerlake!“ krächzte Sir John.
Hasard machte Anstalten, sich den vorlauten Vogel zu greifen.
Sir John duckte sich, bereit zu einem weiteren Fluchtversuch.
„Dad, bitte!“ Es war einer der beiden Jungen, der es fast flehentlich rief.
Hasard ließ Sir John in Frieden. Der buntgefiederte Vogel nahm diese Tatsache augenblicklich zur Kenntnis, wiegte sich beruhigt von einer Seite zur anderen und plusterte wohlgefällig seine farbenprächtigen Federn.
Die Söhne des Seewolfs hatten den Papagei längst in ihr Herz geschlossen. Daß sie seine vulgären Schimpfworte nur zum Teil verstanden, hatte seinen guten Grund. Es war noch nicht lange her, daß sie begonnen hatten, die ersten Worte in der englischen Sprache zu lernen. Aber sie lernten mit kindlicher Begeisterung, und mit jedem Tag wuchs ihr Wortschatz. Nur wenn sie allein waren, wenn sie abends in ihrer Koje lagen oder morgens erwachten, nur dann sprachen sie Türkisch oder Persisch. Denn damit waren sie bisher aufgewachsen.
Der Seewolf zwang sich, nicht erst an die Vergangenheit zu denken. Die Gegenwart war wichtig, nichts anderes. Sieben Jahre alt waren die beiden jetzt, und er hatte sie bei sich. Das allein zählte.
Hasard strich den Zwillingen über das schwarze Haar.
„Guten Morgen, Philip. Guten Morgen, Hasard.“ Er sprach betont langsam und deutlich.
Aus leuchtenden blauen Augen blickten sie zu ihm auf, während er sich ihnen gegenübersetzte. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen, und mit ihren sieben Jahren waren sie fähig, schnell zu lernen. In den Wochen, die sie an Bord der „Isabella VIII.“ verbracht hatten, waren sie bereits so weit fortgeschritten, daß sie kaum noch die Zeichensprache brauchten, um sich mit ihrem Vater und den Männern der Crew zu verständigen.
„Guten Morgen, Dad“, sagten die beiden wie aus einem Mund. Sie sprachen sehr sorgfältig, noch mit einem unüberhörbaren Akzent. Doch diese Spuren, die aus ihren ersten sieben Lebensjahren im Orient herrührten, würden bald verwischen. Noch waren sie jung genug, um sich vollends auf den englischen Lebensstil umzustellen. Ihr Äußeres spiegelte die Willenskraft und die Intelligenz, die in ihnen schlummerte. Philip und Hasard waren schlank und geschmeidig. Ihre scharfgeschnittenen Gesichtszüge spiegelten einen Ernst, der für ihr Alter ungewöhnlich war.
Eine Weile sah der Seewolf seine Söhne schweigend und lächelnd an. Er wußte, daß sie zu ihm bereits ein festes seelisches Band geknüpft hatten. Sie brauchten nicht unbedingt Worte, um einander zu verstehen.
Der Seewolf hatte berechtigte Hoffnung, daß die Schwierigkeiten und Gefahren auf der Heimreise nach England überwunden waren. Spanien lag endgültig hinter ihnen. Und auch die gefürchtete Biscaya mit ihren wilden Stürmen hatten sie gemeistert. Was jetzt noch folgte, war eigentlich nicht mehr der Rede wert – gemessen an den Herausforderungen, mit denen die Seewolf-Crew in der Vergangenheit fertiggeworden war. England war schon so nahe, daß man hinspucken konnte.
Und damit war auch die bessere Zukunft für die beiden Söhne des Seewolfs nähergerückt.
Leichtfüßige Schritte wurden aus dem Niedergang zur Kapitänskammer hörbar.
Philip und Hasard sprangen auf.
„Bill, Bill!“ riefen sie begeistert. Sie hatten den Moses an seinen Schritten erkannt, bevor sie ihn sehen konnten.
Dann, als der Moses der Crew die Kapitänskammer betrat, hatte er Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren. Die beiden Söhne des Seewolfs tanzten voller Freude um ihn herum. Längst hatten sie Bill, der als Schiffsjunge auf der „Isabella“ angefangen hatte, in ihr Herz geschlossen. Mit dem jungen Mann verband die beiden schon eine echte Freundschaft.
Bill hatte Mühe, das Frühstücksgeschirr heil zum Tisch zu balancieren.
„Philip! Hasard!“ rief der Seewolf. „Setzt euch wieder!“ Er mußte sein Lächeln unterdrücken. Er wußte, daß Vaterstolz in bestimmten Situationen weniger wichtig war als die Notwendigkeit, zivilisierte Lebensgewohnheiten einzuüben. Und er hatte beileibe nicht vor, seine Söhne so zu verwöhnen, daß hochnäsige Gecken aus ihnen wurden.
Bill setzte die Kanne mit heißem Tee ab, daneben eine Schüssel, die mit Schiffszwieback gefüllt war.
Die Söhne des Seewolfs waren gehorsam auf ihre Schemel zurückgerutscht.
„Sir“, sagte der Moses, „der Kutscher läßt ausrichten, daß er den besten Zwieback ausgesucht hat, den er finden konnte.“
„Schon gut“, murmelte der Seewolf, „aber das nächste Mal wird der Kutscher sich diese Mühe sparen. Was die Verpflegung betrifft, gilt an Bord der ‚Isabella‘ noch immer gleiches Recht für alle. Niemand erhält eine Sonderbehandlung. Sag ihm das.“
„Aye, aye, Sir.“ Bill verschwand wieder.
Hasard gönnte sich die Zeit für das gemeinsame Frühstück mit seinen Söhnen. Dann ließ er sie in der Kapitänskammer allein. Er wußte inzwischen, daß sie keinen Unfug anstellen würden.
Beklemmende Luftfeuchtigkeit empfing ihn an Deck. Der Himmel hatte sich hinter einem trüben Vorhang verborgen. Durch Wanten und Pardunen pfiff der Wind, ein handiger Nordwest, der Nebelschwaden mit sich trieb und die weithallenden Stimmen der Männer an Bord auf die kabbelige See hinaustrug.
Auf der Kuhl und auf der Back herrschte rege Betriebsamkeit. Der um Norden pendelnde Wind trieb die Crew zu pausenlosem Einsatz an Brassen und Schoten. Bis auf Großmars- und Vormarssegel war das gesamte Tuch der Galeone gesetzt. Die „Isabella VIII.“ lief mit rauschender Fahrt über Steuerbordbug auf Nordostkurs.
Über die Kuhl dröhnte Ed Carberrys mächtige Stimme. Der bullige Profos war in seinem Element. Mit seinen Sprüchen, die jeder im Schlaf nachbeten konnte, scheuchte er die Männer über die feuchten Decksplanken. Ben Brighton, Bootsmann und Hasards Stellvertreter, gab seine Kommandos vom Achterkastell her. Ben war ein ruhiger und zuverlässiger Mann. Nirgendwo fühlte er sich mehr zu Hause als im rauhen Wetter vor den britischen Inseln.
Während Hasard die schmalen Stufen zum Achterkastell erklomm, bemerkte er, daß der Nebel nachzulassen begann. Die Sicht hatte sich geringfügig verbessert, betrug aber kaum mehr als vier, fünf Schiffslängen.
Philip Hasard Killigrew trug sein ledernes Wams über einem hellen Leinenhemd. Der Ledergurt unterstrich seine schmalen Hüften und die breiten, muskulösen Schultern. Hasard war über sechs Fuß groß. Unter seinem schwarzen Haarschopf dominierten zwei eisblaue Augen, die so klar und fest waren wie seine Charaktereigenschaften.
Ben Brighton stand in der Nähe des Ruderhauses, wo er seine Anweisungen an den Rudergänger gab. Pete Ballie, dieser stämmig gebaute und etwas zu klein geratene Mann, hatte graue Augen und blondes Haar. Seine Fäuste hatten das Format von Ankerklüsen. Schon unter Sir Francis Drake hatte er sich mit diesen hart zupackenden Fäusten als Rudergänger bewährt.
Ben Brighton wandte sich Hasard zu, als dieser neben ihm stehenblieb.
„Wir werden den Kurs nicht mehr lange halten können. Der verdammte Nordwest fängt an zu schralen.“
Hasard runzelte amüsiert die Stirn.
„Ich weiß nicht, wo die Probleme liegen sollen, Ben. Oder meinst du, daß uns ein bißchen Zeitverlust schaden könnte?“
„Das will ich damit nicht sagen, aber …“
„Mir scheint, dich hat die gleiche Stimmung gepackt wie die anderen. Wenn es nach euch ginge, müßte