Aus dem Norden, so viel stand fest.
Was gab es da?
Deutsche? Die befuhren nicht die Weltmeere, soweit man wußte.
Holländer? Schon eher möglich.
Engländer? Auch möglich, aber schwer vorstellbar. Wie sollten sie sich an Gibraltar vorbeimogeln, wo die Spanier alles zu den Fischen schickten, was ihnen irgendwie nicht geheuer erschien?
Dänen, Schweden, Norweger? Polen, Russen oder Finnen? Ebenfalls nicht völlig von der Hand zu weisen.
In allen Fällen wären solche Leute aber wohl mit einem Schiff aufgekreuzt, das ihrer Herkunft entsprach. Während ihrer Zeit als Seeleute und später als Marinaros bei der venezianischen Kriegsflotte – bis zur unehrenhaften Entlassung – hatten Mauro und Casalungo einiges an Erfahrungen über fremdländische Seefahrer und ihre Schiffe gesammelt.
Es war ganz und gar unbegreiflich, warum diese Nordmänner auf einem Mittelmeerschiff fuhren.
Irgend etwas stimmte mit ihnen nicht, davon waren die beiden Kumpane schon nach dieser ersten halben Stunde des Beobachtens überzeugt.
Die Schebecke hatte bereits in der kleinen Bucht südlich von Chióggia geankert, als Mauro und Casalungo dort eingetroffen waren. Normalerweise war es ihre Aufgabe, von hier aus den Schiffsverkehr auf der nahen Wasserstraße zu beobachten, sich gegebenenfalls aufs Pferd zu schwingen und ihrem Anführer, Franco Rocca, geeignete Objekte zu melden.
An diesem Morgen war nichts los dort draußen, im küstennahen Fahrwasser. Am vergangenen Abend und in der Nacht hatte es einen Sturm gegeben, und die Frachtsegler hatten in Häfen und Buchten Zuflucht gesucht. Im Fall der Schebecke schien es sich geringfügig anders verhalten zu haben.
Wie Mauro und Casalungo beobachteten, waren die Crewmitglieder damit beschäftigt, in den Unterdecksräumen für Ordnung zu sorgen. Man konnte also annehmen, daß sie den Sturm abgeritten hatten.
Und dann waren sie doch gezwungen gewesen, eine Bucht anzulaufen, denn Ladung und Ausrüstung waren verrutscht. Zur Frischwasser- und Vorratsbeschaffung würden sie eine einsam gelegene Bucht wie diese, zwischen den Mündungen des Adige und des Po, nicht ausgesucht haben.
Die Schebecke war ein schlankes Schiff mit Lateinsegeln an drei Pfahlmasten. Typische Merkmale waren der weit vorragende Vorsteven-Vorbau, der stark vorgeneigte vordere Mast und die erhöhte, weit ausladende Heckgalerie für den kleineren achteren Mast.
Die Länge des Dreimasters schätzten Mauro und Casalungo auf mehr als dreißig Yards. Und die Armierung konnte sich sehen lassen. Vorn und achtern je zwei Drehbassen, an Backbord und an Steuerbord jeweils sechs Kanonen, nämlich Culverinen mit einem Geschoßgewicht von mindestens siebzehn Pfund.
Das besondere an der Schebecke war, daß es sich um ein noch ruderbares Segelschiff handelte, mit Riemenpforten zwischen den Geschützen am Schanzkleid. Merkmale der Galeere waren nicht zu übersehen, doch war die Schebecke wesentlich länger und stärker gebaut und vor allem deutlich seetüchtiger.
„Sinnlos“, sagte Michele Mauro nach diesen langen Minuten des Schweigens, und Giovanni Casalungo hatte die gleichen Gedanken.
Und wenn die Schebecke noch so hervorragend war, man würde sie nicht kapern und noch viel weniger damit auf Raubzüge gehen können.
Franco Rocca wußte, was er tat.
Er wußte verdammt genau, daß es auf den vielbefahrenen Wasserwegen des Adriatischen Meeres für Piraten immer schwieriger wurde.
Deshalb hatte Rocca sein besonderes Verfahren der Beutejagd entwickelt.
Noch lag über dem flachen, von zahllosen Wasserläufen durchzogenen Po-Delta die Feuchtigkeit des frühen Morgens – vornehmlich dort, wo sumpfige Wiesen und Schilfgrasfelder einer vielfältigen Tierwelt geschützte Heimstatt boten.
Die unterschiedlichsten Vogelstimmen waren zu hören, und von Zeit zu Zeit zuckten die Zwillinge regelrecht zusammen, wenn Wasserhühner heisere, abgehackte Schreie von sich gaben, die sich anhörten wie menschliche Kinderstimmen in höchster Not.
Schon vor einer guten Stunde waren sie an Land gepullt. Während an Bord für Ordnung gesorgt wurde, hatten Philip und Hasard junior Gelegenheit, Plymmie Auslauf zu geben. Von Zeit zu Zeit brauchte die Wolfshündin jene Weite, die ihre Vorfahren über Meilen hinweg durchstreift hatten.
Zwar war sie bei den Arwenacks nicht darauf angewiesen, nach Beute zu jagen, um nicht zu verhungern, denn sie wurde schließlich bestens versorgt. Aber gerade deshalb fiel bei ihr Bewegungsmangel doppelt ins Gewicht – im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn sie nicht an Tagen wie diesem Gelegenheit erhielt, sich auszutoben, würde sie sich über kurz oder lang in ein schwerfälliges, fettes Monstrum verwandeln, dessen durchhängender Bauch über die Decksplanken schleifte.
Die beiden jungen Killigrews hatten das kleine Beiboot im südlichen Teil der Bucht in einen Wasserlauf gelegt, den sie ein Stück hinaufgefahren waren, bis sie festes Ufer erreicht hatten. Da keine Strömung herrschte, vermuteten sie, daß es sich um einen Landeinschnitt handelte, in dem Meerwasser stand.
Plymmie tobte sich nach Herzenslust aus. Kreuz und quer, in wilden Hakenschlägen, raste sie über das scheinbar endlose Grasland, das sich bis zum Horizont erstreckte. Bäume und Buschgruppen, auf erhöhtem Gelände, standen wie dunkle Inseln in einem wogenden grünen Meer aus kniehohem Gras.
Insbesondere der Rand der Bucht war auf diese Weise gesäumt, als hätte es die Natur darauf angelegt, schutzsuchenden Schiffen ein wirkungsvolles Bollwerk gegen ablandige Stürme zu bieten.
Von Plymmie war über endlose Minuten nichts als der hoch erhobene buschige Schwanz zu sehen, wie sie das Gras in Zick-Zack-Bahnen durchpflügte und dabei ein wirres Muster von Furchen hinterließ. Ihre Ausdauer war hoch immer beachtlich. Denn an Bord lag sie keineswegs nur von morgens bis abends faul auf den Planken.
Da lieferte sie sich wilde Jagden mit Arwenack, dem Schimpansen, oder sie versuchte, den zeternden Sir John zu packen, bevor er sich flatternd auf einen Mast retten konnte.
Natürlich handelte es sich dabei immer nur um Spielerei. Denn das „Viehzeug“ der Arwenacks – wie Edwin Carberry es durchaus liebevoll nannte – lebte an Bord in trauter Eintracht.
Philip und Hasard hatten versucht, dem Hühnergeschrei auf die Spur zu kommen, waren dabei aber nicht erfolgreich gewesen. Jedesmal, wenn sie glaubten, endlich einmal eins von den Viechern im Schilf zu erblicken, verstummte es, tauchte oder versteckte sich sonstwie.
Als sich die Zwillinge wieder der Weite des Marschlandes zuwandten, hatten sich die Zick-Zack-Furchen nicht mehr erweitert.
Von Plymmies Rute keine Spur mehr.
Philip und Hasard wechselten einen Blick. Philip öffnete den Mund und wollte die Hände zum Trichter formen, um nach der Wolfshündin zu rufen.
„Still!“ sagte Hasard leise. „Vielleicht hat sie jagdbares Wild aufgestöbert!“
Philip ließ die Hände sinken. Ausnahmsweise mußte er seinem Bruder recht geben.
Sie sahen sich um und spähten nach einer Bewegung im Gras. Aber da war keine andere als diese wogende Bewegung, die der Wind verursachte. Erst nach langen Sekunden erhielten sie einen vagen Hinweis auf das, was sich abspielte.
Ein verhaltenes Knurren, nicht einmal sehr weit entfernt.
Die Zwillinge folgten den Furchen im Gras mit Blicken, bis sie eins der Enden am Ufer jenes Wasserlaufs entdeckten, dem sie landeinwärts gefolgt waren.
Vorsichtig pirschten sie sich auf die Stelle zu.
Und dann, Atemzüge später, verharrten sie regungslos und ohne einen Laut.
Plymmie nahm sie nicht einmal wahr.
Ebensowenig das Tier, das die Wolfshündin aufgespürt hatte.