Der hochgewachsene, muskulöse Korse Montbars, der sich zusammen mit Gustave Le Testu auf die Seite der Seewölfe geschlagen hatte und dem es als einzigem gelungen war, sich dem Zugriff der Piraten zu entziehen, hatte sich im Schutz der Dunkelheit an die Felsengrotten herangearbeitet und die Engländer befreit. Nachdem es diesen gelungen war, sich mit Waffen aus den Vorräten der Freibeuter einzudecken, setzten sie alles daran, Yves Grammont und seinen Kumpanen eine vernichtende Niederlage zu bereiten.
Der Seewolf hob plötzlich die rechte Hand.
Die dunklen Gestalten, die im trüben Mondlicht durch die felsige Landschaft schlichen, verhielten augenblicklich ihre Schritte. Dann konnten sie alle das laute Getrampel von zahlreichen Stiefeln hören. Außerdem wurde die Stille der Nacht von lauten Männerstimmen gestört, und zwar ganz in ihrer Nähe. Nur sehen konnten sie niemand, weil bizarre Felsformationen ihre Blikke behinderten.
Auf ein weiteres Zeichen Hasards hin, gingen die Männer lautlos in die Hocke, um nicht ihrerseits ins Blickfeld zu geraten. Reglos kauerten sie auf dem felsigen Boden und lauschten angestrengt in die Nacht.
Die Gesprächsfetzen, die an ihre Ohren drangen, wurden lauter.
Die Männer sahen sich stumm an, und wahrscheinlich empfanden sie alle das gleiche, als sie die Stimmen Easton Terrys und Halibuts vernahmen. Ja, es handelte sich unverkennbar um die Stimme des früheren Kapitäns der „Fidelity“, der den Geheimauftrag an die Piraten und ihre spanischen Auftraggeber verraten hatte, und eines ehemaligen Crewmitgliedes, das wegen Terry eine Meuterei angezettelt hatte.
Selbst unter Tausenden von Lauten hätten die Männer des Seewolfs und Jerry Reeves’ diese Stimmen wiedererkannt.
„Verdammt und zugenäht!“ hörten sie Halibut, jenen fiesen Kerl mit dem stumpfsinnigen Gesichtsausdruck, fluchen. „Was haben die Fakkeln zu bedeuten? Bei den Grotten scheint tatsächlich der Teufel los zu sein.“
„Ich dachte mir gleich, daß Killigrew auf irgendeine Art und Weise für Schwierigkeiten sorgen würde“, erwiderte Easton Terry. „Die Schüsse können jedenfalls nur an den Grotten abgefeuert worden sein!“
Wieder war Halibuts Stimme zu hören.
„Die Kerle mit den Fackeln – es scheint Grammont mit einigen Leuten zu sein. Er ist schon beim Krachen der ersten Schüsse losgestürmt. Oh, verdammt, hoffentlich sind die Bastarde nicht entwischt.“
„Wie sollten sie!“ tönte nun wieder Terrys Stimme durch die Nacht. „Da müßte schon der Teufel persönlich seine Hand im Spiel haben. Trotzdem sollten wir uns beeilen.“
Die Geräusche, die von den Schritten mehrerer Männer verursacht wurden, verstärkten sich. Dann hörten die Engländer einen anderen Mann, dessen Stimme sie nicht kannten, kurz auflachen.
„Nur keine Panik“, sagte er in französischer Sprache. „Diese Insel ist schließlich kein Kontinent. Selbst, wenn es euren ehemaligen Kumpanen gelungen sein sollte, aus den Grotten zu entwischen – was ich, wohlbemerkt, sehr bezweifle –, gelangten sie nicht weit. Wir würden sie in kurzer Zeit wie die Hasen zusammentreiben und niederschießen.“
Noch immer verhielten sich die Besatzungen der beiden englischen Galeonen mucksmäuschenstill.
Hasard und Jerry Reeves, die sich keine drei Yards von einander entfernt niedergekauert hatten, warfen sich stumme Blicke zu. Und der Seewolf begriff nur zu gut, was das plötzliche Aufflackern in Reeves’ Augen zu bedeuten hatte.
Während sich die linke Hand des jungen Kapitäns zur Faust ballte, tastete die rechte langsam zum Griff des Degens.
Hasard konnte verstehen, daß es Jerry Reeves in unmittelbarer Nähe Easton Terrys gewaltig in den Fäusten juckte. Auch den übrigen Männern von der „Fidelity“ war deutlich anzumerken, daß sie sich am liebsten mit lautem Gebrüll auf den Verräter und seine abtrünnigen Begleiter gestürzt hätten. Der Seewolf kroch deshalb sofort näher an Reeves heran und legte ihm schwer die Hand auf den Unterarm.
Jerry Reeves verstand, was Philip Hasard Killigrew mit dieser zwingenden Geste zum Ausdruck bringen wollte. Langsam, fast zögernd, steckte er die Waffe an ihren Platz zurück. Das war gleichzeitig das Signal für seine Leute, sich ebenfalls zurückzuhalten.
Niemand von den Seewölfen zweifelte daran, daß dazu eine ziemliche Portion Willenskraft gehörte, denn Terry hätte – wenn sein Verrat nicht rechtzeitig entdeckt worden wäre – die eigenen Leute bedenkenlos ans Messer geliefert. Zudem war es ihm nach seiner Überführung und Verurteilung unter üblen Umständen gelungen, sich mit seinem Anhang von der „Fidelity“ abzusetzen.
Die Schritte entfernten sich, auch die Gesprächsfetzen wurden leiser. Man hatte die entflohenen Gefangenen also nicht bemerkt. Dennoch wartete Hasard noch einige Minuten ab, bis er das Zeichen zum Weitermarsch gab. Ihm sollte es nur recht sein, wenn Terry und seine Halsabschneider erst einmal zu den Grotten marschierten, denn für ihn und seine Männer bedeutete das einen erheblichen Zeitgewinn. Außerdem verringerte sich dadurch die Zahl der Gegner, die sich noch im Piratennest befanden.
Schweigsam setzten die schwerbewaffneten Engländer ihren Weg durch das unwegsame Gelände fort. Auch der Hugenotte Gustave Le Testu und Roger Brighton, Bens jüngerer Bruder, die beide bei dem gestrigen Kampf mit den Piraten verletzt worden waren, wurden mitgeschleppt. Le Testu hatte einen Schultersteckschuß abgekriegt, und Roger Brighton hatte sich einen Oberschenkeldurchschuß eingehandelt. Aber dank der Künste des Kutschers, ihres Feldschers, waren sie in der Lage, an der waghalsigen Flucht – wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen – teilzunehmen.
Bis zum Lager der Piraten, die in einigen alten Steinhütten hausten, die einst von den keltischen Bewohnern der Insel errichtet worden waren, konnte es nicht mehr allzu weit seins Obwohl sich der Mond hin und wieder hinter einigen vorbeiziehenden Wolkenfetzen versteckte, erschien er doch immer wieder und erleichterte damit dem Seewolf und seinen Männern die Orientierung.
Philip Hasard Killigrew war sich natürlich darüber im klaren, daß man auf einer kleinen Insel nicht einfach davonlaufen konnte. Zumindest nicht für längere Zeit. Deshalb hatte er sich zur Offensive entschlossen. Um jedoch zu verhindern, daß sie erneut von den Piraten in die Zange genommen wurden, hatte er schon zu Beginn der abenteuerlichen Flucht einen kleinen Trupp aus den Männern der „Hornet“ zusammengestellt, zu dem Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane, Dan O’Flynn, Blacky, Batuti sowie Jack Finnegan und Paddy Rogers gehörten.
Diese acht Seewölfe hatten den Auftrag, sich zu der versteckten Bucht an der Südseite der Insel vorzuarbeiten und wenigstens eins der dort vor Anker liegenden Schiffe zu entern. Damit sollten sie dann die Ausfahrt blockieren, um zu verhindern, daß auch die übrigen drei Piratenschiffe in die Bucht einlaufen und den an Land agierenden Männern in den Rücken fallen konnten.
Natürlich hätte der Seewolf auch mit seinen kompletten Mannschaften eins der Schiffe entern und dann einen Ausbruch aus der Bucht wagen können – vielleicht sogar mit der „Hornet“ und der „Fidelity“ –, aber er wollte Mordelles nicht verlassen, ohne dem wichtigsten Spion der Spanier, dem gebürtigen Portugiesen Lucio do Velho und dessen Begleitern, die sich im Hüttenlager der Piraten aufhielten, einen Besuch abgestattet zu haben.
Sein Ziel war, die Spanier als Geiseln zu nehmen, den Schlupfwinkel der Piraten nach Möglichkeit in die Luft zu jagen und dann auf dem Landweg zur Bucht vorzudringen, wo seine gekaperten Galeonen an den Ankertrossen schwoiten.
Hasard und seine Männer wußten sehr wohl, daß sie sich eine ganze Menge vorgenommen hatten – trotzdem waren alle mit Eifer bei der Sache, denn eine bessere Gelegenheit, Grammont und seine Schnapphähne auszuschalten und damit ihren ursprünglichen Auftrag zu erfüllen, würde sich wohl kaum mehr bieten. Würden sie auf dem Seeweg fliehen, wäre es später ungleich schwieriger, wieder an die Insel heranzukommen, weil die Piraten sie mit ihren Kanonen, die in den Felswänden postiert waren, verteidigen würden. Also hatten sie sich für die bessere Strategie entschieden.
Als das Plateau mit den sechs alten, verwitterten Steinhütten etwa vierhundert Yards „Steuerbord voraus“ auftauchte, hob