4.
Emile Boussac sah den dicken Willem an, der vor Rührung feuchte Augen gekriegt hatte.
„Und ich?“ sagte er. „Hilft mir keiner?“
Die Queen blickte ihn verwundert an. In Gedanken hatte sie sich schon als die Herrscherin der Schlangen-Insel gesehen. „Was willst du denn, Emile? Natürlich wirst du auf Tortuga eine Schenke einrichten, obwohl es dort schon eine gibt. Oder aber du läßt dich auf Hispaniola nieder.“
„Nein, nein, mein Problem ist ganz anderer Art“, sagte er unglücklich. „Ich habe es noch keinem erzählt, es ist mein großes Geheimnis.“ Er legte eine Hand aufs Herz. „Ich weiß nicht, ob ich es dir verraten soll.“
Ihre Miene verfinsterte sich. „Ist es eine gute oder eine schlechte Nachricht, Emile? Nimm dich in acht. Was hast du ausgefressen?“
Er biß sich auf die Unterlippe. War er im Begriff, sich zu verplappern? Ahnte sie etwas in bezug auf Ribault und das Messer? Hastig suchte er nach Worten.
„Das ist so“, entgegnete er. „Schon vor sechs Monaten bin ich mit einem französischen Händler einig geworden. Ich habe einen Kontrakt mit ihm abgeschlossen, wonach dieser mir – äh, fünfzig erstklassige Huren aus Paris zu liefern hat.“
Caligula horchte auf, und auch die Kerle, die gerade bei ihm standen und alles mitgehört hatten, fuhren mit verblüfften Mienen herum.
„Weiber?“ fragte Caligula. „Wirklich?“
„Straßendirnen“, erwiderte Emile bereitwillig. „Sie werden in Paris auf offener Straße entführt und an Bord von Schiffen verschleppt. Ich habe mich genau informiert, und man hat mir auch so manches bestätigt, was ich über das Leben in Paris vernommen habe.“ Fast war er wieder drauf und dran, Ribault und Rivero zu erwähnen, konnte sich aber rechtzeitig zügeln. „Ich weiß, ich weiß, das ist ein skrupelloses Unternehmen, aber was kann ich daran ändern?“
„Uns ist es doch egal, ob in Paris Huren verschwinden“, sagte die Queen mit spöttischem Lächeln. „Verrate mir lieber etwas Wichtigeres, Emile. Ist der Transport schon unterwegs hierher?“
„Er ist überfällig. Eigentlich müßte er jeden Tag eintreffen.“
„Huren“, sagte Caligula genüßlich. „Nicht schlecht. Wir könnten sie uns schnappen und auf Hispaniola verkaufen. Wie wäre das?“
„Ausgezeichnet“, erwiderte die Queen trocken. „Aber leider läßt sich das nicht in die Tat umsetzen – es sei denn, das Schiff mit den Mädchen trifft morgen früh hier ein.“
„Wenn es doch so wäre“, sagte Emile. „Ich wäre heilfroh, auch wenn ich kein Lokal mehr habe. Ich hätte alles so schön eingerichtet. Die Hinterzimmer wollte ich für die Mädchen in Séparées verwandeln. Verstehst du, Queen?“
„Natürlich. Du würdest auch deine eigene Schwester als Hure verkaufen, Emile.“
Die Piraten lachten grölend.
Emiles Gesicht verwandelte sich wieder in eine Maske der Traurigkeit. „Aber jetzt – was soll jetzt werden? El Triunfo und die ‚Mouche Espagnole‘ existieren nicht mehr.“
„Jeder Kapitän, der sich in der Karibik ein bißchen auskennt, kann zwei und zwei zusammenzählen“, sagte die Queen. „Beim Anblick der zerstörten Siedlung wird ein solcher Kapitän also schleunigst wieder in See gehen und sich auf den Inseln ein wenig umhören. Dann findet er sehr schnell heraus, wo die Leute von El Triunfo abgeblieben sind.“
Emile hob den Kopf. „Glaubst du wirklich? Ich meine, daß mein Kapitän so scharfsinnig vorgehen wird?“
„Ich hoffe doch, daß er kein Dummkopf ist.“
„Bestimmt nicht“, sagte Emile und grinste breit.
„Na also, du siehst, es renkt sich alles wieder ein“, sagte die Black Queen. „Sei kein Narr, hab Hoffnung in die Zukunft. Du kriegst deine Mädchen und eröffnest auf Tortuga oder auf Hispaniola ein großes Etablissement.“
„Einen Bums, den wir als erste ausprobieren!“ rief einer der Kerle, und die anderen stimmten ihm begeistert zu.
Die Gesichter von Willem Tomdijk und Emile Boussac waren jetzt verzückt. Eifrig halfen sie mit, die eintreffenden Siedler zu registrieren. Die Queen sah ihnen zu und lächelte triumphierend. Ja, ihr Einfluß auf diese Kerle war wirklich groß. Das mußte sie auch in Zukunft ausnutzen.
Die Nacht verging schnell. Am Morgen hatten sich über hundertfünfzig Engländer und Franzosen an der Sammelstelle eingefunden. Aber es befanden sich immer noch Versprengte im Dschungel, und deshalb harrte die Black Queen weiterhin an der Hafenbucht von El Triunfo aus. Zweihundert Männer waren von den Spaniern erschossen worden, knapp dreihundert hatten in den Urwald flüchten können.
Die Suchtrupps der Spanier hatten noch einige Opfer gefunden, aber nach den Schätzungen der Queen mußten es immer noch mehr als hundert Männer sein, die sich rund um die zusammengeschossene, niedergebrannte Siedlung versteckt hielten. Auf diese wertvollen Besatzungsmitglieder für ihre Schiffe wollte sie nicht verzichten. Noch blieb sie.
Eine Nacht kann ich noch in El Triunfo verbringen – wenn es sein muß, dachte sie.
Als der neue Morgen anbrach, erreichte die „Le Vengeur III.“ die Insel Cayos Cajones. Der Wind wehte jetzt aus Osten, aber die Galeone lag inzwischen auf Kurs Nordosten und brauchte nicht zu kreuzen – was der Fall gewesen wäre, wenn sich die Windrichtung nicht geändert hätte.
Mit prall gefüllten Segeln lief das Schiff die Insel direkt an. Kommandorufe wehten über die Decks, Barba stand am Ruder und erfüllte souverän seine Aufgabe. Jean Ribault, Siri-Tong, Doc Delon, Marty und Jenkins befanden sich mit ihm auf dem Achterdeck und richteten Kieker auf die näherrückende Insel. Eine geschwungene Bucht öffnete sich an der Südküste und bot sich als Ankerplatz an.
Wenig später ließ Jean Ribault die Marssegel ins Gei hängen, und die „Le Vengeur“ lief mit verringerter Fahrt in die Bucht. Sie ging über Stag und drehte bei, und nun wurden auch das Großsegel, die Fock, das Besansegel und die Blinde aufgegeit. Das Ausloten der Wassertiefe verlief positiv, die Bucht war ein natürlicher, ideal gelegener Hafen.
„Die Insel scheint wirklich ein kleines Paradies zu sein“, sagte Doc Delon. „Marty, du bist ein Teufelskerl. Woher kennst du dich hier aus?“
„Das Schiff, mit dem ich nach El Triunfo segelte, lag hier eine Nacht und einen halben Tag vor Anker“, erwiderte das Kerlchen. „Aber das ist eine Geschichte, die ich dir ausführlich ein andermal erzähle. Es wundert mich, daß wir uns nie darüber unterhalten haben.“
„Mich auch“, sagte der Arzt. „Aber so ist das Leben. Man lebt in einem Nest Haus an Haus beieinander und glaubt, alles über die Vergangenheit der Kameraden zu wissen – und dann gibt es doch Überraschungen wie diese.“
Hinkle stand auf dem Hauptdeck bei Roger Lutz, Eric Winlow und Dave Trooper. Nach einem ausgiebigen Blick durch das Spektiv zum Ufer sagte er: „Ich kann es kaum erwarten, alles auszukundschaften.“
„Überlaß das lieber uns, du Witzbold“, sagte Winlow und fuhr sich mit der Hand über die Glatze. „Du stolperst ja doch gleich dem ersten Kannibalen in die Arme, der aus dem Dickicht springt, und bist der erste, der verspeist wird.“
„Du meinst – hier gibt es Menschenfresser? Aber Marty hat doch von friedlichen, freundlichen Eingeborenen gesprochen!“ stieß der schwerhörige Mann entsetzt hervor.
„Ich habe schon Haie kotzen sehen“, sagte der Koch der „Le Vengeur“ trocken.
„Und ich habe schon so manches paradiesische Eiland betreten, das sich später als Hölle erwiesen