In Gießen lernte der Student Schneider vor allem von den Professoren Hermann Gunkel und Wilhelm Bousset, die beide anerkannte Religionswissenschaftler und Häupter liberaler Theologie waren. Hermann Gunkel19 erforschte vor allem Formen und Gattungen der alttestamentlichen Texte. Professor Wilhelm Bousset20 war ein bedeutender Kenner der Religionsgeschichte, vor allem des Urchristentums und der frühen Kirche.
Vater Schneider war Wingolfit21; Paul trat in Gießen und Marburg in diese Studentenverbindung ein. »Ist die Verbindung die Opfer an Zeit und Geld wert? Entspricht dem auch der Gewinn? Diese Frage und Hang zur Einsamkeit, Scheu vor der Gesellschaft lassen mich beinahe zurückschrecken. Aber ein innerstes Pflichtgefühl, das mich heißt, die angeborene Neigung zum Träumen und zur Bequemlichkeit zu überwinden, hält mich doch der Farbe schwarz-weiß-gold treu. – Wenn du unentschlossen bist zwischen zwei Dingen, so wähle das dir weniger Bequeme« (Tagebuch). – In Gießen wurde er in den ersten Semestern dann auch tüchtig in das Verbindungsleben mit hineingezogen. Daneben trieb ihn der Niederbruch Deutschlands 1919 dazu, sich immer wieder mit Kommunismus und Sozialismus22 zu beschäftigen. »Der Bolschewismus23, ein Widerspruch in sich selbst, da ein Zustand, der nur durch die Liebe des Einzelnen zur Allgemeinheit und seinen guten Willen bedingt sein kann, mit Gewalt eingeführt werden soll. Und dieses gewaltsame Einführenwollen kann letztlich nicht dafür zeugen, dass die Vertreter dieser gewaltsamen Einführung, der Putsche und Streiks, diese Vorbedingung des sozialen Staats erfüllen. Das Proletariat 24 soll herrschen, bis alles sozialisiert ist. Aber allein durch die äußere Sozialisierung tritt doch nicht ein Umschwung der Gesinnung ein, und so müsste die Sozialisierung zu einer dauernden Diktatur des Proletariats 25 werden, womit nichts erreicht wäre, weil bei diesem noch weniger als bei den Bürgern die Vorbedingung sozialer Zustände, sittlicher sozialer Gesinnung gegeben ist. Versittlicht das Volk, macht die Menschen besser, dann nähern wir uns ganz von selbst dem sozialen Staate!« (Tagebuch). – Im Wintersemester 1920 war Paul in Marburg. Hier herrschte im Wingolf ein strammer Korporationsgeist26; Pauls Reformpläne, die auf Beseitigung des Frühschoppens hinzielten und dem Turnen mehr Raum geben wollten, fanden keinen Anklang. Er belegt einen Turnlehrerkursus und legt 1921 das staatliche Turnlehrerxamen ab. Er übt Orgel und gibt Nachhilfestunden.
Der Frühling 1920 führt Paul nach Tübingen. Die Wohnungsnot ist groß, er bittet im Weilheimer Pfarrhaus um Aufnahme. Er erlebt nun zum ersten Mal einen großen Familienkreis und ist in die Familiengemeinschaft aufgenommen. Sein bescheidenes, ruhiges, dann wieder jungenhaft übermütiges Wesen erinnert an den gefallenen Theologensohn27.
In einer unveröffentlichten, reich bebilderten »Chronik der Familie Dieterich«28 beschreibt Marie Luise Dieterich, die ältere Schwester von Margarete, der späteren Frau Paul Schneiders, dessen Auftreten und Verhalten im Weilheimer Pfarrhaus: »Der letzte Student, der um Quartier bat, war Paul Schneider, ein Pfarrersohn aus Hochelheim, Rheinhessen. Er hatte sich mit einem Studienfreund auf den Weg nach Tübingen gemacht. Beide gewannen in den benachbarten Pfarrhäusern Kilchberg und Weilheim einen behaglichen Unterschlupf und verloren dabei ihr Herz. Einen froheren Menschen wie Paul Schneider gab es auf der ganzen Welt nicht, und das ganze Haus und seine Bewohner nahmen ihn so gern auf, als wäre er ihr Eigener. Selbstverständlich begleitete er unsere Jüngste morgens nach der Stadt, sie in die Arbeitsschule, er ins Kolleg; selbstverständlich saß er abends am Esstisch, wo ihm alles schmeckte, Aufgewärmtes vom Mittag oder frisch gekochte Pilze. Dafür half er beim Gießen im Garten, schüttelte die ersten Zwetschgen vom Baum. Er holte auch auf Bitte die Elsternnester von der hohen Tanne herunter und sang und sang, dass es durch’s weite Tal schallte. Sonntagmorgens setzte er sich gern ans Klavier, um einen Choral zu spielen, und war gern Zuhörer in der Kirche, um hintendrein mit Vater die Predigt zu diskutieren. Schade, dass das Sommersemester so kurz war, aber das zarte Band hielt und riss nicht ab.«
Zwei junge Menschen gehen täglich den Weg zur Stadt, er zur Uni, sie, gerade der Schule entwachsen, in die Frauenarbeitsschule, treffen sich über Mittag im Kahn auf dem Neckar – und sind versonnen und versponnen in ein unausgesprochenes Glück. Beim Abschied meint er sprechen zu müssen – es ist noch zu früh. Zwei Jahre gehen ins Land, bis sie sich ganz finden und von da an Hand in Hand durch vier Jahre Brautzeit wandern; der »eine Stab des andern und süße Last zugleich«! Immer mehr bietet eins dem andern Heimat, kann eins das andere seelsorgerlich tragen.
Das Weilheimer Pfarrhaus, aus dem Margarete, gen. Gretel, Schneider, geb. Dieterich, kommt: Ihr Vater, Karl Dieterich (1856–1927), stammt aus einer württembergischen Familie, in der seit seinem siebenten Vorfahren, dem Ulmer Münsterprediger und Professor Chunrad Dieterich (1575–1639), von dem heute noch ein in Stein gehauenes Denkmal im Ulmer Münster steht, viele Glieder Pfarrer waren, besonders unter den direkten Vorfahren des Karl Dieterich.
Das hat ihn keineswegs dazu bewogen, ein angepasster »gehorsamer Sohn« seiner württembergischen Landeskirche zu sein. Er, der bei J. T. Beck in Tübingen biblische Theologie studiert hatte, kümmerte sich während seiner Vikarszeit so hingebungsvoll um die zahlreichen Armen seiner Umgebung, dass das Württembergisch Königliche Konsistorium von seiner einseitigen Parteiname für die Unterlegenen durchaus nicht erbaut war. Nachdem er bei der Predigt über das Wort Johannes des Täufers »Wer zwei Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat« (Lukas 3,11) demonstrativ seinen Talar ausgezogen und einer armen Frau gegeben hatte mit der Empfehlung, sie möge sich aus dem Stoff ein Kleid nähen, griff das Konsistorium ein, verbot ihm vorerst das Predigen und ließ vorsichtshalber die Kirche versiegeln. Was den feurigen Theologen dazu bewog, zwischen den Dörfern in Feldscheunen zu predigen.
Seine Mutter besuchte den konfliktbereiten Sohn, wollte ihn zum Einlenken bewegen. Ohne Erfolg. Als sie dann an diesem heißen Tag zu einem entfernten Bahnhof eilen musste, brach sie aus leiblich-seelischer Überanstrengung zusammen und starb in den Armen des Sohnes.
Karl Dieterich verließ daraufhin Württemberg und wurde Hauslehrer bei einem Adeligen in Ungarn. Nach längerer Zeit kehrte er nach Württemberg zurück, wurde von der Landeskirche wieder gütig in den Pfarrdienst aufgenommen und heiratete als Pfarrverweser von Gomadingen die Tochter des Nachbarpfarrers, Marie Rüdiger (1864–1943), Paul Schneiders spätere Schwiegermutter. Sie gebar ihrem Mann zehn Kinder, deren jüngstes Margarete, Gretel, 1904 zur Welt kam. Er war dann Pfarrer in Auenstein bei Heilbronn, später in Wildberg im Schwarzwald, schließlich in Weilheim bei Tübingen.
Von Karl Dieterich hat sein Sohn Karl Dieterich, geb. 1900, gelegentlich gesagt, er sei in seiner Jugend theologisch konservativ und politisch progressiv gewesen; im Alter jedoch eher theologisch liberal und politisch nationalkonservativ. Das zeigen auch seine zahlreichen Gelegenheitsgedichte, in denen er, besonders während des Ersten Weltkriegs, eine streitbare nationale Gesinnung offenbarte. Sein Leben lang half er den Armen, wo er nur konnte. Der leidenschaftliche Prediger ließ sich auch mit siebzig Jahren nicht pensionieren. Sein Tod im Februar 1927 erfolgte nach einem Zusammenbruch vor dem Altar, nachdem er mit seinem bescheidenen Kirchenchor noch ein Weihnachtsoratorium aufgeführt hatte. Zweieinhalb Jahre vorher, im Juli 1924, hatte ihm sein Schwiegersohn P. S. zur Frage, ob er sich pensionieren lassen solle, geschrieben: »O bitte, Vater, tu noch ein Weilchen mit, es ist doch so schön, für Gottes Sache zu streiten