Vertrauen. Miryam stieß unzufrieden die Luft aus. Wem konnte man schon vertrauen? Ja, sie verließ sich auf ihre Mitarbeiter. Was die Arbeit betraf. Sie verließ sich auf Handwerker und Lieferanten. Und fiel oft genug damit herein. Aber auch das war Arbeit. Damit musste man rechnen.
Aber privat? Konnte man privat irgendjemandem vertrauen, sich auf irgendjemanden verlassen? Die meisten versprachen viel und hielten wenig. Oder sie versprachen einem etwas, damit sie das bekamen, was sie selbst haben wollten. Eine Frau konnte Sex versprechen – und den bekam man dann auch. Aber wenn sie bekommen hatte, was sie wollte, zeigte sie ihr wahres Gesicht. Oder war gleich ganz verschwunden. Unter Umständen auch mit etwas in der Tasche, das nicht ihr gehörte.
Geschäftspartner konnte Miryam ganz gut einschätzen. Auch bei Mitarbeitern hatte sie sich selten geirrt. Aber privat . . . privat hatte sie das Gefühl, dieses Talent schon lange verloren zu haben. Falls sie es je besessen hatte. Na ja, vielleicht ganz am Anfang . . .
Aber nein, auch da nicht. Schon ihre Mutter hatte ihr Versprechen nicht gehalten, die Familie, die sie gegründet hatte, auch zu versorgen, sich um sie zu kümmern. Und ihr Vater hatte diese Absicht ohnehin nie gehabt. Er hatte eine Familie gehabt, weil sich das so gehörte. Nicht unbedingt, weil er eine wollte. Und das hatte er sie alle auch immer spüren lassen.
Deshalb waren Geschäftsbeziehungen besser. Da gab es Verträge, und die mussten beide Seiten einhalten. Wenn sie nicht eingehalten wurden, gab es legale Mittel, dagegen vorzugehen. Das war nichts Persönliches. Und es war ganz klar, was welche Seite zu leisten hatte. Was nicht im Vertrag stand, wurde auch nicht erwartet.
Im Privatleben war das anders. Da waren die Dinge, die man zu tun und zu lassen hatte, durch Vereinbarungen geregelt, die in keinem Vertrag standen. Deshalb konnte man sie auch nicht einklagen. Erwartungen an eine andere Person konnte man haben, aber man durfte nicht damit rechnen, dass sie auch erfüllt wurden. Deshalb war es am besten, man schraubte seine Erwartungen so weit herunter, dass man gar nicht erst enttäuscht werden konnte.
Und doch machte sie sich immer wieder Hoffnungen. Manche Frauen hatten es sehr gut raus, diese Hoffnungen auszunutzen. Es schien, als hätten sie ein eigenes Organ dafür. Sie konnten sich so verstellen, dass nichts von ihrer wahren Persönlichkeit an die Oberfläche drang. Bis es zu spät war.
Machte sie sich schon wieder Hoffnungen, obwohl sie sich eigentlich vorgenommen hatte, das nie mehr zu tun?
Aber diese junge Frau . . . Nein. Das konnte nicht sein. Sie war viel zu jung. Sie hatte ganz andere Interessen, ein ganz anderes Leben. Nichts davon war wahrscheinlich mit Miryam vergleichbar.
Aber sie lebte anscheinend allein und hatte einen Hund. Viele junge Leute lebten noch bei den Eltern. Ließen sich versorgen, statt sich selbst um ihr tägliches Leben zu kümmern. Blieben solange Kinder, wie ihre Eltern es erlaubten, und kümmerten sich um nichts als sich selbst, als vielleicht den nächsten Rave, auf dem sie ihre Zeit verschwendeten, eventuell sogar noch unter Drogeneinfluss, was die Verschwendung noch massiver machte.
Diese junge Frau sah nicht so aus. Sie machte sich Sorgen um ihren Hund. Sie übernahm Verantwortung, statt sie auf ihre Eltern oder irgendjemand anderen abzuschieben. So jung sie auch war, aber sie war kein Kind mehr.
Nein, ein Kind war sie wirklich nicht . . . Miryam schluckte. Unter dem dünnen Krankenhaushemdchen hatte sie ihre Brüste gesehen. Das waren keine Teenagerbrüste, das waren die Brüste einer Frau.
An so etwas sollte ich jetzt nicht denken. Sie ist krank!
Aber eines Tages wird sie ja wieder gesund sein . . .
»Sie haben Ihr Ziel erreicht.« Die unerotische Frauenstimme aus dem Navi machte all ihre Phantasien schon im Anfangsstadium zunichte.
Sie seufzte. »Na, dann kümmern wir uns erstmal um den Hund. Alles Weitere wird sich finden.«
Alles Weitere? Was denn Weiteres?
Aber diese Frage aus ihrem Inneren beantwortete Miryam nicht, sondern stieg mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck aus.
5
»Sind Sie Ella Cziebinsky?« Von einer ziemlich harten Stimme wurde Ella geweckt.
Etwas verwirrt öffnete sie die Augen und sah eine Frau vor sich, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Ja?«, murmelte sie schläfrig.
»Sie haben die Versicherungsunterlagen nicht vollständig ausgefüllt.« Die Frau trat auf sie zu und hielt ihr mit einer Gehorsam einfordernden Geste ein Klemmbrett entgegen, auf dem sich offenbar ein paar Formulare befanden.
Mit ihrer linken Hand zeigte Ella auf ihren verletzten rechten Arm. »Ich kann im Moment nicht schreiben. Ich bin Rechtshänderin.«
Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte die Frau sie an, als hätte Ella sie mit ihrer Antwort persönlich angegriffen oder beleidigt. Sie war klein und schmächtig, eine Frau in mittleren Jahren mit einem grauen Schimmer in ihrem kurzen dunklen Haar, aber von ihrer Ausstrahlung her hätte sie genauso gut der Bulldozer sein können, von dem Ella das Gefühl hatte, dass er sie hätte überfahren haben können.
»Dann diktieren Sie mir eben«, beschloss sie offensichtlich widerwillig und platzierte das Klemmbrett wieder vor ihrer eigenen, recht opulenten Brust. »Bei welcher Versicherung sind Sie?« Abschussbereit wie ein Dartpfeil lag der Kugelschreiber in ihrer Hand.
Das habe ich kommen sehen. Ella seufzte innerlich. Aber was nützte es? Sie musste die Wahrheit sagen. »Ich bin bei keiner Versicherung«, erklärte sie korrekterweise. »Ich kann mir keine Krankenversicherung leisten.«
Die bislang verkrampft zusammengezogenen Augenbrauen der Frau schossen in die Höhe. Sie waren ebenso dunkel wie ihr Bürokostüm, das sie fast wie eine Uniform als eine Verwaltungsangestellte des Krankenhauses auswies. Sonst hätte sie ja einen weißen Kittel getragen. »Und wer bezahlt dann Ihren Aufenthalt hier? Sie selbst?«
Bedauernd schüttelte Ella den Kopf. »Das werde ich wohl nicht können. Jedenfalls nicht alles auf einmal. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich das in Raten abzahlen werde, bis alles bezahlt ist.« Sie holte tief Luft. »Egal, wie lange es dauert.«
»Dreißig Tage«, gab die Angestellte trocken Auskunft.
Entsetzt riss Ella die Augen auf. »Dreißig . . . Tage?«
»Nach Erhalt der Rechnung«, präzisierte die Hüterin der Verwaltungsunterlagen das. »Die Sie bekommen, nachdem Sie entlassen worden sind. Jetzt müssen Sie noch nichts bezahlen.«
»Na, das tröstet mich jetzt aber sehr.« So schockiert, wie Ella war, konnte sie das nur ironisch kommentieren und atmete aus. »Aber auch nach dreißig Tagen werde ich nichts zahlen können. Eine kleine Summe vielleicht, aber auf keinen Fall die ganze Rechnung. Denn die wird ja nicht nur fünf Euro betragen.«
Beinah bestürzt sah die Frau sie an. »Fünf Euro? Sie denken, die Behandlung hier kostet nur fünf Euro?«
»Nein, natürlich denke ich das nicht.« Automatisch wollte Ella den rechten Arm heben, um abzuwinken, aber da spürte sie sofort einen stechenden Schmerz, der sie im selben Moment, als sie das versuchte, erstarren ließ.
»Also, Sie können nicht bezahlen«, schloss die Verwaltungsangestellte aus dem, was sie nun an Informationen von Ella bekommen hatte, und wirkte so, als hätte Ella das Krankenhaus oder sogar sie ganz persönlich mit Absicht betrügen wollen.
»Nein, kann ich nicht.« Ella seufzte. »Das sagte ich ja schon. Höchstens in ganz kleinen Portionen. Sobald ich wieder gesund bin und arbeiten kann. Aber etwas anderes kann ich Ihnen nicht versprechen. Dann würde ich lügen.«
»Das hätten Sie gleich bei Ihrer Ankunft auf dem Formular angeben müssen.« Die Frau war offensichtlich erbost. Was bei ihrer Verständnislosigkeit für die Situation