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Teil 1
GEBET
Unser ganzes Leben sollte ein dem Göttlichen dargebrachtes Gebet sein. – Die Mutter
Kapitel I
Die Bedeutung des Gebets
Worte Sri Aurobindos
Das Leben des Menschen ist ein Dasein voller Wünsche und Bedürfnisse und somit von Begierden, nicht nur in seinem physischen und vitalen, sondern auch in seinem mentalen und spirituellen Wesen. Wenn er sich einer höheren Macht bewusst wird, die die Welt regiert, naht er sich dieser durch sein Gebet für die Erfüllung seiner Bedürfnisse, für Hilfe auf seinem rauhen Lebensweg, für Schutz und Beistand in seinem Kampf. Welche Rohheiten es bei der gewöhnlichen religiösen Annäherung an Gott durch das Gebet auch geben mag – und deren gibt es viele, besonders diese Haltung, die glaubt, das Göttliche könne man günstig stimmen, bestechen und ihm schmeicheln, so dass es sich durch Lobpreisung, Flehen und Geschenke zufrieden und nachsichtig stimmen lasse und wenig darauf achtet, in welchem Geist man sich ihm naht –, so entspricht dennoch diese Art, sich an das Göttliche zu wenden, einer wesentlichen Regung unseres religiösen Wesens und beruht auf einer universalen Wahrheit.
Man zweifelt oft an der Wirksamkeit des Gebetes und vermutet, das Beten selbst sei etwas Irrationales und darum notwendigerweise etwas Überflüssiges und Unwirksames. Es ist wahr, dass der universale Wille immer seine Absichten ausführt und davon nicht durch egoistisches Drängen oder Flehen abgelenkt werden kann. Es ist wahr, dass das Transzendente, welches sich in der universalen Ordnung zum Ausdruck bringt, allwissend ist und darum in seinem umfassenderen Wissen voraussehen muss, was zu geschehen hat und dazu keine Weisungen oder Anregungen durch menschliches Denken braucht. Es ist wahr, dass die Begehrlichkeiten des Individuums in keiner Welt-Ordnung ein wirklich bestimmender Faktor sind oder sein können. Aber weder diese Ordnung noch die Ausführung des universalen Willens werden durch ein mechanisches Gesetz bewirkt, vielmehr durch Mächte und Kräfte, von welchen, zumindest für das menschliche Leben, der Wille, die Aspiration und der Glaube nicht zu den unwichtigsten gehören. Das Gebet ist nur eine besondere Form, in der sich dieser Wille, diese Aspiration und dieser Glaube zum Ausdruck bringen. Oft sind seine Formen noch sehr primitiv und nicht nur kindlich, was kein Fehler wäre, sondern kindisch, aber dennoch hat es eine wirkliche Macht und Bedeutung. Seine Macht und sein Sinn ist, den Willen, die Aspiration und den Glauben des Menschen mit dem göttlichen Willen als dem eines bewussten Wesens in Berührung zu bringen, zu dem wir in bewusste und lebendige Beziehung treten können. Denn entweder können unser Wille und unsere Aspiration durch unsere eigene Kraft und Anstrengung wirken, was zweifellos zu etwas Großem und Wirksamen, ob für niedere oder höhere Zwecke, führen kann – und es gibt viele Disziplinen, die diese Kraft als die einzig zu gebrauchende herausstellen –, oder er kann unabhängig davon und dem göttlichen oder universalen Willen untergeordnet handeln. Diese letztere Methode wiederum mag entweder diesen Willen als aufgeschlossen für unsere Aspiration ansehen, dies aber beinahe mechanisch, nach einer Art Energiegesetz, gewiss aber völlig apersonal, oder sie mag ihn so verstehen, dass er bewusst auf unsere auf Gott gerichtete Aspiration und auf den Glauben der menschlichen Seele antwortet und ihr Hilfe, Führung, Schutz und den erbetenen Erfolg bringt, yogaksemam vahamyaham.
Das Gebet trägt dazu bei, diese Beziehung zunächst auf der niederen Ebene für uns vorzubereiten, wenn es auch dort mit vielem behaftet ist, was aus reinem Egoismus und bloßer Selbsttäuschung herrührt. Danach können wir uns aber höher hinauf jener spirituellen Wahrheit zuwenden, die dahinter steht. Dann kommt es nicht mehr so sehr auf Gewährung der erbetenen Sache an, sondern auf die Beziehung selbst, auf den Kontakt des menschlichen Lebens mit Gott, auf den bewussten Austausch mit ihm. In spirituellen Dingen und beim Suchen nach spirituellen Errungenschaften ist diese bewusste Verbindung eine große Macht. Sie ist eine viel stärkere Macht als unser völlig auf uns selbst gestütztes Kämpfen und Mühen und bringt ein größeres spirituelles Wachsen mit sich und eine größere spirituelle Erfahrung. Notwendigerweise endet das Gebet schließlich in der größeren Sache, auf die es uns vorbereitet hat – tatsächlich ist die Ausdrucksform, die wir Gebet nennen, an sich nicht wesentlich, solange der Glaube, der Wille und die Aspiration vorhanden sind –, oder aber es bleibt nur um der Freude an der Beziehung willen. Auch werden seine Ziele, artha, das Interesse, welches es zu verwirklichen sucht, immer höher und höher, bis wir schließlich die höchste, von keinen Motiven mehr bestimmte Verehrung erreichen, welche die der göttlichen Liebe ist, rein und einfach, ohne jegliche Forderung oder irgendein Verlangen.
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Worte Sri Aurobindos
Die menschliche Seele kommt zum Göttlichen um der Hilfe, dem Schutz, der Führung und Erfüllung willen – oder, wenn Wissen das Ziel ist, naht sie sich dem Führer, Lehrer und Geber des Lichtes, denn das Göttliche ist die Sonne des Wissens –, oder sie kommt in Schmerz und Leiden, um Linderung, Trost und Erlösung zu finden, Erlösung entweder vom Leiden selbst oder von der Welt-Existenz, die die Heimstätte des Leidens ist oder dessen innere und wahre Ursache1... Die Seele geht zur Mutter-Seele mit all ihren Wünschen und Nöten, und die Göttliche Mutter will es so, damit sie ihr Herz der Liebe ausströmen lassen kann. Die menschliche Seele wendet sich ihr auch aufgrund des selbstexistenten Charakters dieser Liebe zu und weil sie uns den Weg zu unserer Heimat weist, in die wir von unseren Wanderungen in der Welt zurückkehren, hin zur Brust, an der wir unsere Ruhe finden.
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Worte Sri Aurobindos
Nun zu den Gebeten: Die Tatsache des Betens als solche und die innere Haltung, die es mit sich bringt, besonders das selbstlose Gebet für andere, öffnet dich gegenüber der höheren Macht, selbst wenn in der Person, für die du betest, kein entsprechendes Ergebnis erzielt wird. Über Letzteres kann nichts mit Bestimmtheit ausgesagt werden, denn das Ergebnis hängt notwendigerweise von der Person ab, das heißt, ob sie offen oder empfänglich oder etwas in ihr fähig ist, auf irgendeine Kraft zu reagieren, die das Gebet herabbringt.
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Worte der Mutter
Menschen mit einer strengen Logik werden dir allerdings sagen: „Wozu beten? Wozu streben? Wozu bitten? Der Herr tut, was Er will, und Er wird tun, was Er will.“ Das versteht sich von selbst, man braucht es gar nicht zu sagen, doch dieser Impuls: „O Herr, offenbare dich!“, gibt Seiner Offenbarung eine intensivere Schwingung.
Sonst hätte Er die Welt niemals so gemacht, wie sie ist. Es gibt da eine besondere Macht, eine besondere Freude, eine besondere Schwingung in dieser eindringlichen Aspiration der Welt, wieder das zu werden, was sie ist.
Das ist der Grund, warum es – teilweise, fragmentarisch – eine Entwicklung gibt.
Einem ewig vollkommenem Universum, das in alle Ewigkeit die ewige Vollkommenheit offenbart, würde die Freude des Fortschritts fehlen.
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Worte Sri Aurobindos
Niemand wird in diesem Yoga in irgendeiner formalen Weise initiiert. Diejenigen werden von der Mutter angenommen, die für diesen Weg oder für Sri Aurobindos Werk berufen oder von innen heraus auserwählt wurden. Diese Annahme ist ausreichend. Diejenigen gelten als berufen oder auserwählt, die sich öffnen und empfänglich für die Kraft sein können, die von der Mutter hier ausgeht, und die das Wirken der Kraft spüren können. Wer durch das, was er jetzt tut, sich mit der Zeit für die Kraft öffnen und sie empfangen und fühlen kann, wird das als Zeichen dafür sehen, dass er für diese Art von Yoga bestimmt ist. Es ist nichts anderes nötig: Gebet und Streben reichen aus, wenn es Aufrichtigkeit und einen wahren Ruf im Inneren gibt.
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