Doktor Bauer erlaubt sich ein winziges Schmunzeln.
»Ich habe eine vielversprechende Information für Sie, Frau Berger.«
Sie dreht den Kopf zu ihm. In ihren Augen mischen sich Schmerz und Hoffnung. Doktor Bauer fährt fort: »Wir haben im Labor schon vor einigen Tagen eine Schnellanalyse durchgeführt. Die Pusteln entstehen auf der Haut. Sie dienen den Viren als Nahrung. Nach einiger Zeit sterben sie ab, und der Heilungsprozess kann beginnen. Warum das geschieht, ist noch völlig unerforscht. Aber es funktioniert bei Patienten, bei denen sich nur wenige Pusteln gebildet haben. Ebenso wenig ist bekannt, wie sich die Pusteln derart rasend vermehren konnten. Ich habe aber Grund zur Annahme, dass auch bei großen Mengen an Pusteln, deren Wirkung nach einer gewissen Zeit abnimmt, die Heilung einsetzt.«
Anita: »Wenn ich nur lange genug lebe.«
Theodora: »Ach komm. Du wirst noch meine Bestattung organisieren.«
Doktor Bauer: »Ihr Tee wird Ihnen gleich gebracht, Frau Berger.«
Der Schwarm hat viel gelernt in den paar Wochen, die er sich nun auf der Erde aufhält. Seine Viren haben sich prächtig entwickelt. Einige mutige Stämme haben angefangen, in der Tierwelt nach Arten zu suchen, die als Wirtskörper geeignet sein könnten. Als vielversprechend haben sich große Affen, namentlich Gorillas, erwiesen, daneben skurrilerweise einige Amphibien wie Lurche und gewisse Frösche. Die Entwicklung der Viren verläuft bei ihnen ähnlich wie bei den Menschen. Aber diese haben sich noch gar nicht mit den tiermedizinischen Problemen befasst.
Schwarm: Können wir diese Tiere einfangen?
Schwarm: Warum?
Schwarm: Wir wollen wissen, wie sie sich entwickeln, wenn keine Menschen an ihnen herummachen, mit Krankenhäusern, künstlicher Beatmung, so genannten Medikamenten.
Schwarm: Wir müssen über sie herfallen, ganz ohne Medizin.
Schwarm: Wo? Wann?
Schwarm: Botswana. Jetzt, sofort.
Unsere drei Ärzte wissen nicht mehr weiter.
Die Menschheit hat die zweite Welle hinter sich und steht jetzt am Anfang der dritten. Die deutsche Bundesregierung und der schweizerische Bundesrat haben die einzuhaltenden Schutzmaßnahmen nochmals drastisch verschärft und den Menschen die letzten Freuden genommen. Im Nachbarland Freunde besuchen, geht nicht. In der Buchhandlung den Vorrat an geistiger Nahrung auffüllen – kommt nicht infrage. Und so weiter. Bei vielen Läden hängen Anzeigen an der Türe wie seinerzeit bei der Kriegsmobilmachung. Das Haus oder die Wohnung verlassen – nur für notwendige Verrichtungen: Apothekenbesuch, Einkauf von Lebensmitteln, Kinder zur Schule bringen und abholen. Bei privaten Partys nur fünf Teilnehmer aus höchstens zwei Familien. Schlimm ist: Die Zahl der Neuansteckungen verharrt ungerührt auf hohem Niveau, die virusbedingten Todesfälle ebenfalls.
In dieser Zeit der enttäuschten Hoffnungen und privaten Dramen schießen die wildesten Gerüchte ins Kraut.
Bei einem ihrer regelmäßigen Telefongespräche berichtet Oskar Bauer seinen Kollegen von einem bedrückenden Erlebnis. Ein schwerer Traum hat ihn im Schlaf heimgesucht und, nachdem er erwacht war, als Tagtraum weiter geplagt. Er ist allein über eine blühende Wiese spaziert. Gelbe und rote Feldblumen verströmen einen kräftigen Duft. Die Wiese ist von einem aggressiven Grün, das in den Augen schmerzt, wenn man nicht rechtzeitig wegschaut. Es gibt keine Bäume und keine Büsche; am Himmel gleißt eine bösartige Sonne, die schon längst alle Wolken vertrieben hat. Oskar geht weiter und weiter, er sehnt sich nach anderen Menschen, aber es ist niemand in Sicht. Endlich überquert er eine kleine Anhöhe. Am Fuß der Erhebung, auf der anderen Seite, liegt eine Frau am Boden. Sie ist barfuß, trägt Jeans und ein weißes T-Shirt und ist weder jung noch alt. Sie rührt sich nicht und ist vielleicht tot. Der Duft der Blumen hat sich noch verstärkt; er ist jetzt schwer und überall. Oskar beugt sich über den Frauenkörper; dieser sondert keinen eigenen Duft ab. Stattdessen fällt ihm das Atmen auf einmal immer schwerer. Er keucht und fängt an zu schwitzen. Er ruft laut »Wo ist Luft?« über die Wiese. Dieser Ausruf weckt ihn, Traum und Tagtraum sind verschwunden.
»So, das wär’s«, sagt er erleichtert ins Telefon. »Ende der Märchenstunde.«
Wolfgang Degenhart räuspert sich, er sagt nichts.
Emil Wetter erklärt: »Interessant.« Dann, nach einer Pause: »Du hättest die Frau untersuchen sollen.« (Sie reden einander unterdessen mit dem freundschaftlichen Du an.)
Oskar Bauer denkt an die Frau im Traum und an die mangelnde Atemluft, selbst nachdem der Traum verschwunden ist. Das Erlebnis lässt ihn nicht so leicht los. Die Frau beschäftigt ihn. Er sagt: »Sie muss etwa Bestimmtes bedeuten, aber was? War sie tot oder hat sie geschlafen? Oder bilde ich mir nur etwas ein, weil uns diese Virusgeschichten permanent auf Trab halten?«
Jetzt hustet Wolfgang Degenhart in sein Telefon. Er ist ein starker Raucher. Sowie sein Anfall vorbei ist, legt er den Kollegen seine Gedanken offen. »Es mag weit hergeholt sein, aber Oskars Traum hatte zwei markante Elemente, die Frau und die Luft. Vielleicht sollten wir beide gemeinsam betrachten.«
Emil Wetter: »Und dann?«
»Die Frau hat die schwere Luft zu lange eingeatmet und ist davon bewusstlos geworden«, führt Degenhart sein Denkmodell weiter. »Der Traum wollte Oskar eine Botschaft übermitteln.«
»Wohl direkt aus dem Unterbewusstsein«, meint Wetter sarkastisch.
»Das gibt’s durchaus«, erwidert der Münchner Kollege. Er ist nicht scharf auf ein Streitgespräch mit dem Berner.
»Dann müssen wir jetzt bloß noch die Frau finden, oder?«
»Aber nein.« Degenhart winkt ab. »Aber mit der Luft sollten wir uns beschäftigen. Die Frau ist nur Sinnbild für das, was geschehen könnte.«
»Und das wäre?«
Degenhart holt aus. »Es muss bloß der Kohlenmonoxidgehalt der Luft in einem bestimmten Gebiet massiv ansteigen, und schon haben wir eine tödliche Bedrohung für die Menschen, die in jenem Gebiet leben, hundertmal schlimmer als das Kohlendioxid CO2. Das ist die Warnung von Oskars Traum. Vielleicht verfügen die n-Viren über die Fähigkeit, die Zusammensetzung unserer Atemluft zu verändern, vielleicht haben sie eine Art Verständigung entwickelt. Wir wissen es nicht, also reine Spekulation. Aber wenn die Spekulation real wird und das Virus in eine andere Form mutiert, dann haben wir eine Bedrohung für die ganze Welt.«
Oskar Bauer: »Wir müssen etwas unternehmen. Was mit Anita Berger passiert ist, darf sich nicht wiederholen.«
Auch der Schwarm muss etwas unternehmen. Er hat nach einer langen Reise im Universum den Planeten Erde entdeckt und seine Bewohner, die sich Menschen nennen, kennengelernt. Das Experiment mit Anita Berger hat ihn allerdings selber überrascht, so viele Pusteln hat er nicht erwartet. Und genießbar sind sie nur während kurzer Zeit gewesen, dann sind sie verdorrt und abgefallen, und die Frau, auf die sich die Viren gefreut haben, ist entgegen allen Erwartungen gesund geworden und nützt ihnen nicht mehr. Das bedeutet: Der Schwarm braucht rasch eine neue Nahrungsquelle, und die Tiere in Botswana müssen warten.
Für solche Situationen hat der Schwarm das Prinzip entwickelt, für jede Standortverschiebung einen Voraustrupp von rund einer Milliarde Viren ins Zielgebiet zu entsenden. Als neues Ziel ist nach ersten Abklärungen Titan, der größte Mond des Planeten Saturn, bestimmt worden. Er ist rundum verhüllt von einer eisigen Gashülle. Darunter, auf der feindseligen Mondoberfläche, hat der Schwarm eine erstaunliche Lebensform angetroffen. Handtellergroße Plätzchen, die wie bewegliche Eisfladen aussehen, haben sich als Träger geeigneter Zellformationen erwiesen, deren Eiseskälte den Viren nichts ausmacht. Im Gegenteil: Die erste Speiseprobe, die vom Voraustrupp des Schwarms vorbereitet worden ist, hat alle Erwartungen übertroffen. Die Eisfladen basieren auf einer Art von Eiszellen, die genügend Nährstoff für die Viren enthalten. Zwanzig Zielsubjekte sind mit Viren gesättigt und danach beobachtet worden. Die Ansteckung hat sich wunschgemäß entwickelt; bloß das Blut, das an den Einstichstellen in winzigen