Mein Handy piepste. Lina hatte mit einem Bild von sich und ein paar Klassenkameraden geantwortet, die heftige Grimassen zogen. Zeitalter der Revolution, stand auf dem Foto. Ich musste lächeln. Lina sah endlich wieder zumindest ein bisschen fröhlich aus.
Der Tag wollte nicht enden. Erst ewig Gemüse schälen, dann kochen, kassieren und unfassbare Mengen an dreckigem Geschirr bewältigen. Es gab einen doppelstöckigen Geschirrspüler, der nonstop lief, aber alle großen Gefäße mussten von Hand gereinigt werden. Um achtzehn Uhr durfte ich mich endlich nach Hause schleppen, und da war es draußen schon dunkel. Ich hatte viel zu viele Stunden am Stück gearbeitet, wenn man unsere vertragliche Vereinbarung zugrunde legte, aber es schien nicht der richtige Moment zu sein, das anzusprechen.
Der Bus nach Vällingby hatte Verspätung, und als er endlich auftauchte, hielt er nicht, weil er schon überfüllt war. Erst um zwanzig vor sieben betrat ich das Reich von Siv, die ein Kleid mit Blumenmuster trug und mich mit einem bittersüßen Lächeln im Flur erwartete. Ihre Dauerwelle sah frisch aus. Vielleicht hatte sie meine erste Monatsmiete direkt zu einem Friseur nach Vällingby Centrum getragen.
»Ihnen bleiben noch zwanzig Minuten, sich etwas zu kochen«, sagte Siv. »Danach will ich die Küche für mich haben!«
In der Küche stand Jalil, der marokkanische Schnurrbartträger, in einem hellgrünen Hemd und knallroter Hose. Er hatte drei der vier Herdplatten belegt und bedachte mich mit einem vielsagenden Blick, als ich hereinkam.
»Ich koche abends immer …«, setzte er an, doch ich unterbrach ihn.
»Ja, ja«, sagte ich leicht säuerlich. »Würdest du vielleicht trotzdem ein bisschen Platz machen, damit ich Nudelwasser aufsetzen kann?«
Noch so ein Blick, den ich einfach ignorierte. Ich holte einen Topf aus dem Schrank, füllte ihn mit Wasser, stellte ihn auf den Herd und drehte voll auf. Ich musste mich heute also mit Spaghetti, Butter und Ketchup zufriedengeben.
Mal wieder.
Da lag ein langer Herbst vor mir.
»Hattest du einen schönen Tag?«, presste ich hervor und lehnte mich an den Tisch, während ich darauf wartete, dass das Wasser zu kochen anfing.
Zu meiner großen Verwunderung lächelte Jalil mich breit an, und da erst fiel mir auf, was für schöne Augen er hatte. Er pikte etwas mit der Gabel aus der Pfanne und reichte sie mir.
»Entschuldige, dass ich heute Morgen so grantig war«, sagte er. »Ich bin alles andere als ein Morgenmensch, da komme ich ganz nach meiner Mutter. Die spricht niemand vor Mittag an. Gebratene Paprika mit Chili und Kumin. Nimm dir ein Stück Brot, das ist ganz schön scharf.« Ich lächelte zurück.
»Das klingt perfekt«, sagte ich und nahm die Gabel entgegen. »Scharf ist genau das, was ich brauche.«
Jalil hatte recht: Es war sehr scharf. Ich rupfte etwas von dem Brot ab, das in einer Schale auf der Spüle stand, und wollte es mir gerade in den Mund stecken, als Jalil sich wieder zu mir umdrehte. Blitzschnell schlug er mir gegen die Hand, sodass das Brot auf den Boden fiel.
»Was soll das?«, fragte ich schockiert. »Du hast doch gesagt …«
»Doch nicht das Brot!«, zischte Jalil mit einem Blick zur Tür. »Das ist von der Ollen! Die anderen hier sagen, dass sie da Rattengift reinsteckt und es in den Keller legt. Pass bloß auf, dass deine Katze da niemals hingeht!«
Rattengift? In der Küche? Wo war ich denn hier gelandet?
»Das Baguette auf dem Tisch ist von mir«, sagte Jalil. »Nimm dir was davon.«
»Danke, das ist nicht nötig«, erwiderte ich matt. »Ich bleibe lieber bei der Pasta.«
Nachdem ich gegessen, Simåns gefüttert und eine Runde mit ihm an der Leine gedreht hatte, rief ich meine Mutter an. Sie hob direkt ab.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Och, na ja«, sagte ich und spürte plötzlich, wie entmutigt und verzweifelt ich war. »Tja … wo soll ich anfangen? Irgendwie ist es schon komisch. Hatte nicht gedacht, dass ich ausgerechnet hier landen würde, als ich ein A für meine Examensarbeit bekam.«
»Nicht landen«, betonte Mama. »Zwischenlanden! Das ist ein Unterschied.«
»Vielleicht«, erwiderte ich.
»Fang mal von vorn an«, forderte Mama. »Was ist komisch?«
Also erzählte ich von meinem ersten Tag in Stockholm, und Mama lachte und stöhnte abwechselnd. Das Rattengift erwähnte ich nicht; meine Mutter machte sich schon genug Sorgen.
»Warst du denn wenigstens schon in der Innenstadt?«, fragte sie. »Ich weiß doch, wie sehr du dorthin willst. Aber du hältst dich von der Drottninggatan fern, so wie du’s versprochen hast, ja? Und keine Kopfhörer in den Ohren, vergiss das nicht!«
»Mama«, sagte ich geduldig. »Die Drottninggatan ist jetzt vermutlich die sicherste Straße in ganz Stockholm. Meinst du allen Ernstes, dass die zweimal den gleichen Ort nehmen würden?«
»So abwegig ist das gar nicht«, entgegnete sie.
»Dann vergiss du bitte nicht, dass ich beim Militär war«, sagte ich. »Sogar Feldwebel.«
»Wie genau schützt dich das vor einem verrückten Selbstmordattentäter oder einem rasenden Lastwagen?«, fragte sie.
Oder einem kaputten Gasherd in einem ganz gewöhnlichen Sommerhaus, hätte ich erwidern können. Aber ich ließ es bleiben.
Stattdessen musste ich feststellen, dass jemand nebenan den Fernseher eingeschaltet hatte. So laut, dass man jedes einzelne Wort verstehen konnte. Ich seufzte und ging in die entgegengesetzte Ecke meines Zimmers. Aber es machte keinen Unterschied.
»Was ist denn da plötzlich so laut?«, fragte Mama. »Hast du den Fernseher angemacht?«
»Nein«, antwortete ich. »Der Nachbar auf der anderen Seite der Wand.«
Wir schwiegen einen Moment. Der Moderator sprach von der Problematik, dass immer mehr Kinder Allergien entwickelten. Mein Nachbar gähnte laut, und ich hätte schwören können, dass ich sogar hören konnte, wie er sich kratzte.
»Wie sieht es in dir aus?«, fragte Mama.
»Unverändert«, antwortete ich. »Und in dir?«
»Ich finde das immer noch so unwirklich«, sagte sie. »In einer Woche muss ich wieder an die Uni, dann läuft meine Krankschreibung aus. Aber ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll.«
Mama war Bibliothekarin und hatte eine Zeit lang Literaturwissenschaften studiert. Sie arbeitete seit vielen Jahren für die Hauptbibliothek der Universität Örebro, sprang aber manchmal als Vertretung ein, um Vorlesungen in Literatur- oder Filmwissenschaften zu halten. Sie liebte das Lesen, besonders der Klassiker, und hatte der gesamten Familie die Augen für die Literatur geöffnet. Sie hatte mir Charles Dickens und Sofi Oksanen in die Hände gedrückt, und dank ihr hatten wir genauso gern Filme von Alfred Hitchcock oder Woody Allen gesehen wie Fernsehserien wie Homeland oder Modern Family.
»Es ist wichtig, dass du arbeiten gehst«, sagte ich. »Du musst wieder in die Spur kommen.«
Mama seufzte.
»In der Theorie klingt das ja auch toll. Aber heute stand ich im Supermarkt und hatte keine Ahnung, warum ich dort war. Mir war klar, dass ich einkaufen wollte, aber ich konnte den Einkaufszettel nicht finden und mich nicht daran erinnern, was ich brauchte. Und dann wollte ich deinen Vater anrufen … In dem Moment war mir klar, dass ich nach Hause musste. Ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich das mit der Arbeit schon wieder hinbekomme.«
Mein Nachbar stellte den Fernseher leiser. Nahm offenbar sein Telefon zur Hand und rief jemanden an. Es klang so, als stünde er mitten in meinem