Ein lang gezogenes Miauen holte mich zurück ins Jetzt. Simåns wollte raus, also schloss ich die Tür zum Flur und öffnete die Box.
»Simåns«, sagte ich, »jetzt sind wir angekommen. Hier werden wir wohnen, du und ich.«
Simåns strich durch das Zimmer und beschnupperte die fremden Gegenstände. Dann sprang er aufs Bett und betrachtete mich aus seinen klugen, grünen Augen. Plötzlich gähnte er, und ich konnte direkt in den rosa Schlund mit der rauen Zunge und den nadelspitzen, kreideweißen Zähnen sehen.
Wildtier.
»Du bist ein Wildling, Simåns«, sagte ich und kraulte ihn hinterm Ohr.
Simåns streckte sich und zuckte mit dem Schwanz. Dann kringelte er sich auf dem Überwurf zusammen und schlief ein.
Ich schlief schlecht in dem schmalen Bett, Mondlicht fiel durch die Lücken im Vorhang herein. Wie in den gesamten vergangenen sechs Monaten tauchte ich immer wieder aus dem Schlaf auf. Es war schwer, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Für einen Moment dachte ich, dass meine Tür lautlos geöffnet wurde und das Licht im Flur sich teilte, als stünde dort jemand und würde mich betrachten. Aber als ich mich nach wenigen Augenblicken etwas benebelt aufsetzte, war die Tür geschlossen, und das Zimmer lag im gleichen Halbdunkel wie zuvor.
Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker um sieben Uhr. Im selben Moment kam eine SMS von meiner Mutter.
»Wie geht es dir, mein Schatz? Alles in Ordnung?«
»Alles super«, antwortete ich. »Auf den Beinen und unterwegs zur Arbeit.«
Sie schickte mir ein lächelndes Emoji, und ich ging ins Bad, um zu duschen. Die Tür war abgeschlossen, und drinnen rauschte Wasser. Also kehrte ich in mein Zimmer zurück und suchte, um die Wartezeit zu überbrücken, zusammen, was ich für den Tag brauchen würde. Eine Viertelstunde später war das Bad immer noch besetzt, und mir ging langsam die Zeit aus. Weitere fünf Minuten später klopfte ich an die Tür. Sie wurde sofort geöffnet, und ein Mittdreißiger mit langem Oberlippenbart kam zum Vorschein. Er sah verschlafen und wütend aus, die Augen zu schmalen Schlitzen gezogen, und er trug einen blauen Bademantel. Um den Hals hing ein rosa Handtuch mit hellblauen Elefanten, worüber ich unfreiwillig lächeln musste. Mein Lächeln stimmte ihn nicht gerade freundlicher.
»Ich dusche immer um sieben!«, sagte er mit Nachdruck. »Bitte respektieren Sie das!«
»Selbstverständlich«, sagte ich. »Entschuldigung. Mein Name ist Sara, ich bin gerade eingezogen. In das Zimmer am Ende des Flurs.«
Er musterte mich von Kopf bis Fuß und schien wenig beeindruckt von dem, was er sah.
»Jalil«, sagte er abweisend. »Ich komme aus Marokko.«
»Spannend«, sagte ich. »Wie lange sind Sie schon in Schweden?«
Ein weiterer, vernichtender Blick, soweit man das durch die fast zusammengekniffenen Augen beurteilen konnte.
»Lange genug, um zu wissen, dass man sich morgens um sieben Uhr noch nicht unterhalten muss«, sagte er und rauschte dann in seinem Bademantel davon. Ich schaute ihm nach. Er hatte absolut recht.
Der Bus nach Spånga kam pünktlich, aber die S-Bahn nach Sundbyberg hatte Verspätung, zudem wehte auf dem Bahnsteig ein eiskalter Wind. Etwa zehn weitere Passagiere standen außer mir dort und warteten, alle mucksmäuschenstill. Die meisten hörten Musik oder starrten auf ihre Handys. Ich seufzte laut und vertiefte mich dann selbst in die Internetseite des Aftonbladet.
Eine Viertelstunde später tauchte die S-Bahn endlich auf, proppenvoll. Wir konnten uns alle noch hineinzwängen, aber ob ich an meinem ersten Arbeitstag pünktlich sein würde, war mehr als fraglich. Kaum in Sundbyberg, sprang ich aus der Bahn und rannte zwischen den hohen Häusern hindurch, bis ich endlich das Café auf der anderen Seite eines kleinen Platzes entdeckte. Ich war derart außer Atem, als ich hineingeprescht kam, dass ich kaum sprechen konnte.
Zwei Frauen um die fünfzig arbeiteten bereits auf Hochtouren, die eine hatte schwarz gefärbte Haare, die andere war blondiert. Die Blondine war ein bisschen übergewichtig, die Schwarzhaarige schlank wie ein Spargel.
»Soso«, sagte die Schwarzhaarige und warf mir einen Blick zu, während sie den Serviettenhalter an der Theke nachfüllte. »Pünktlichkeit ist das A und O in der Gastronomie.«
»Entschuldigung«, keuchte ich. »Die S-Bahn … kam eine Viertelstunde zu spät.«
»So ist das immer in Stockholm«, sagte die Blondine, lächelte und stützte sich auf den Besen. »Man muss viel Zeit einplanen.«
Sie kamen beide auf mich zu.
»Eva«, sagte die Schwarzhaarige und streckte mir die Hand entgegen.
»Gullbritt«, sagte die Blondine, und ich musste ein breites Grinsen unterdrücken.
Wie sollte sie auch sonst heißen.
»Na, dann!«, sagte Eva, band sich eine Schürze um und warf mir auch eine zu. »Hast du schon mal in einem Café gearbeitet?«
»Nein, leider nicht«, antwortete ich unbeholfen. »Aber das habe ich doch in der Mail geschrieben.«
»Familie?«
»Mutter und eine kleine Schwester. Mein Vater ist letztes Frühjahr in unserem Sommerhaus umgekommen.«
Keine Reaktion, außer dass Eva mich auffordernd ansah. Ich fühlte mich plötzlich unsicher, weshalb ich einfach weitersprach, obwohl mir nicht danach war.
»Die Polizei glaubt, er hatte einen Schlaganfall oder Herzinfarkt«, fuhr ich fort. »Außerdem gab es ein Problem mit dem Gasherd. Es kam zu einem Großbrand. Das ganze Haus fackelte ab, und mein Vater … ja, er kam nicht rechtzeitig heraus. Man konnte nicht mehr feststellen, ob er schon tot war, als das Feuer ausbrach, oder …«
Ich schluckte. Gullbritt schaute mich mitleidig an, während Eva mich aus schmalen Augen betrachtete. Sie schien mir nur so gerade zu glauben.
»Heftig«, sagte sie knapp. »Und es war sicher ein Unfall?«
»Jetzt halt dich mal zurück«, zischte Gullbritt und wandte sich dann an mich. »Du Arme!«
»Was hast du denn dann die ganze Zeit seit dem Schulabschluss gemacht?«, fragte Eva. Ich schluckte noch einmal.
»Direkt nach der Schule erst einmal eine militärische Grundausbildung, danach noch die Offiziersausbildung. Anschließend habe ich in Uppsala studiert. B.A. in Politikwissenschaft und Volkswirtschaft.«
Eva betrachtete mich weiter voller Misstrauen.
»Und was machst du dann hier, nach einer so tollen Ausbildung?«
»Jetzt beruhig dich, Eva, du weißt doch, wie schwer es die Jugend heute hat, eine Anstellung zu finden«, sagte Gullbritt und schob mich vor sich her in die Küche. »Jetzt fängst du erst mal an, Kartoffeln zu schälen.«
Zwanzig Minuten später türmte sich ein Berg frisch geschälter Kartoffeln neben mir auf dem Tisch. Darunter wartete jedoch noch ein weiterer riesiger Sack auf den Einsatz des Sparschälers. Ich schaute aus dem Fenster. Ein Stückchen Himmel ließ sich zwischen zwei hohen Gebäuden erahnen. Er war grau, dunkle Wolken jagten vorbei. Um mich aufzumuntern, schickte ich meiner kleinen Schwester eine Snapchat-Nachricht, ein Bild von mir mit tapferem Lächeln, auf dem ich den Daumen in die Luft recke, im Hintergrund der Kartoffelberg und der dunkelgraue Himmelsfitzel. Work, bitch!, schrieb ich auf das Bild.
Gullbritt war neben mir aufgetaucht.
»Ich hab doch gesagt, du sollst die Spülhandschuhe anziehen«, sagte sie. »Sonst bekommst du sofort Blasen am Daumen.«
Seufzend ließ ich das Telefon in der Schürze verschwinden und tat wie mir geheißen. Im selben Moment rumste es laut hinter mir, ich drehte