Zunächst einmal war für den weiteren Verlauf der polnischen Geschichte entscheidend, dass das Testament von 1138 die herrschende Dynastie der Piasten in drei Hauptlinien zerfallen ließ (die ihrerseits wieder in Nebenlinien aufgeteilt waren): die schlesischen, die großpolnischen und die kleinpolnisch-masowischen Piasten, von denen sich die Letzteren bald schon in eine kleinpolnische, masowische und kujawische Linie aufsplitterten. Trotz dieser Teilung der Dynastie und des Staates ging der Gedanke, dass es eine Einheit gebe, nicht ganz unter; er wurde zu Beginn des 14. Jahrhunderts wiederbelebt und hielt sich von da an bis zu den modernen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts. Die polnische (mittelalterliche) Nation entstand im 11. Jahrhundert, als der Stamm der Polanen einen Teil der westslawischen Stämme unter der Herrschaft des Geschlechts der Piasten vereinte. War zunächst die Dynastie das verbindende Element für eine ganze Gruppe von Stämmen, so wurde die sprachlich-symbolische Vereinigung durch die Übertragung des Stammesnamens der großpolnischen Polanen (Poloni) auf die gesamte Bevölkerung des Staatswesens hergestellt. Erleichtert wurde dieser Zusammenschluss dadurch, dass es kaum sprachliche und andere kulturelle Unterschiede zwischen den westslawischen Stämmen gab. Vielleicht hing damit auch zusammen, dass die ersten Piastenherrscher, Mieszko I. und Bolesław I. Chrobry, die Grenzen ihrer Expansion offen ließen. Rein theoretisch hielt man offenbar sämtliche westslawischen Gebiete für den natürlichen Herrschaftsraum der Piasten; davon zeugen die Feldzüge und zeitweisen Übernahmen, die sich auf Pommern, die Lausitz, Böhmen, Mähren, Brandenburg und die Slowakei (Oberungarn) erstreckten. Einem westslawischen Gesamtstaat unter der Herrschaft der Piasten (ähnlich der Herrschaftsbildung der Rjurikiden unter den Ostslawen in Gestalt der Kiewer Rus’) stand das Römisch-deutsche Reich entgegen. Die Interessen dort gingen eher in die Richtung, die böhmischen Přemysliden und Piasten in einem Gleichgewicht zu halten und eine piastische Hegemonie zu verhindern.
Immerhin verfügte der piastische Staat über feste Grenzen, eine sprachlich-kulturell homogene Bevölkerung und eine autonome kirchliche Struktur. Die Ausbildung eines polnischen Nationalbewusstseins konnte auf dieser Grundlage vonstatten gehen. Allerdings bewirkten Faktoren wie die relativ geringe Besiedlung und die daraus resultierende schwache Wirtschaftskraft (bei verhältnismäßig hoher Belastung der Bevölkerung durch Steuern und Abgaben), dass dieses gesamtpolnische Bewusstsein in der Zeit der Teilfürstentümer einer mehr regionalen Identifikation in den einzelnen Landesteilen wich. Nach 1138 und bis ins 13. Jahrhundert hinein sehen wir so nicht nur eine ungleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung, je nach Region, was die höher entwickelten Landesteile wie Niederschlesien oder Kleinpolen in einen deutlichen Abstand zu schwächer entwickelten Regionen wie Masowien brachte. Es kam auch zu einer sprachlichen Differenzierung und der Verstärkung von Unterschieden zwischen den Dialekten. Ein Separatismus bei der Entwicklung der Teilfürstentümer ist unübersehbar, und er hatte auch Auswirkungen auf den Wandel im Nationsbildungsprozess, der sich im Gefolge der Einwanderung fremder Siedler aus dem Westen (Stichwort »Ostsiedlung«) ergab.
Deutsche Ostkolonisation und kultureller Wandel
Die Verzweigung des Piastengeschlechts und das Auseinanderdriften der Teilherzogtümer zwingen dazu, seit der Mitte des 12. Jahrhunderts nur noch von polnischen Teilgebieten zu sprechen, kaum mehr von einem polnischen Staat. Dennoch wird man größere Einheiten erkennen können, wenn man innerhalb der polnischen Teilgebiete eine gewisse Differenz zwischen Schlesien einerseits sowie Groß- und Kleinpolen andererseits berücksichtigt; Pommern und der Deutschordensstaat in Preußen sind ohnehin separat zu behandeln. Was die Situation in Groß- und Kleinpolen von derjenigen in Schlesien unterschied, war die Ausgangsbasis für das – überall gleiche – Anliegen einer Landesentwicklung: In Schlesien siedelte die Mehrheit der slawischen Bevölkerung auf den fruchtbaren Böden, wie sie etwa um Glogau, Trebnitz, Breslau, Oppeln und Leobschütz gegeben waren. Die Siedlungsgebiete (und Schlesien selbst) waren jeweils von Wald umgeben, der als natürliche Grenze diente und nach Innen hin noch zusätzlich durch ein undurchdringliches Heckenwerk (preseka) bewehrt war. Das Siedlungswerk der Einwanderer, die nicht immer, aber doch in überwiegendem Ausmaß aus den Ländern des Römisch-deutschen Reichs kamen, konzentrierte sich zu Beginn auf die Randzonen des schon besiedelten Bereichs. Hier wurde die Kolonisation gefördert, sei es in Form des Rodens der Grenzwälder, der Urbarmachung des Bodens, des Bergbaus oder in der Anlage neuer Dörfer und Städte. Förderer dieses Landesausbaus waren die schlesischen Herzöge, aber auch die Breslauer Bischöfe, dazu die Zisterzienserklöster und ein Teil des Adels. Der frühe Beginn und die Intensität der Ostkolonisation führten dazu, dass Schlesien so etwas wie ein Paradefall der »deutschen Ostsiedlung« wurde. Davon abgesetzt vollzog sich die Kolonisation in Groß- und Kleinpolen. Auch wenn die politische Absicht, die Wirtschaftskraft der eigenen Länder zu stärken, dasselbe Motiv für den Landesausbau war wie in Schlesien, boten diese polnischen Landschaften doch ein anderes Bild. Die Bevölkerung hier war zahlreicher, und so verlief der Prozess des Landesausbaus hier von Anfang an in engerer Kooperation zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Die Übernahme deutschrechtlicher Formen und auswärtiger Methoden des Feldbaus erfolgte hier erst in der Folgezeit. Zwar gab es eine intensive Kolonisation auch in Groß- und Kleinpolen, gerade auch – wie in Schlesien – durch die Zisterzienserklöster, und es wurden auch zahlreiche neue Dörfer unter der Anleitung von Lokatoren gegründet. Lokatoren waren vom Grundherrn in Dienst genommene Unternehmer, die den Prozess der Urbarmachung und Verteilung von Siedelstellen einleiteten, für die Anwerbung von Siedlern zuständig waren und im späteren Dorf eine sozial herausgehobene Position einnahmen. Sieht man auf die Zahlen, war die Wanderung von Deutschen in die Gebiete Großpolens, Kleinpolens und Kujawiens aber erheblich schwächer ausgeprägt als in Schlesien.
Illustration der deutschen Ostsiedlung um 1300 aus dem Heidelberger Sachsenspiegel. Oben sieht man den Lokator (mit Hut), der eine Gründungsurkunde erhält und ein Dorf gründet. Unten wird er im fertiggestellten Dorf als Richter gezeigt.
Auf eine Formel gebracht, war (deutsche) Kolonisation im östlichen Europa ein Vorgang der Siedlungsintensivierung und des Landesausbaus, der auf Wanderungsbewegungen beruhte, und für den juristische Mechanismen entwickelt wurden, die im Zuge eines Rechtstransfers weitergegeben wurden (Stichwort »deutsches Recht« / lat. ius Teutonicum«). Wie für die östlich von Elbe und Saale liegenden deutsch-slawischen Mischregionen der sogenannten Germania Slavica, worunter Schlesien, Pommern, Preußen sowie Teile Brandenburgs und Sachsens zu verstehen sind, war auch für Groß- und Kleinpolen das deutsche Recht anfänglich sehr stark an deutsche Siedler gebunden. Da der Hauptzweck der Verleihung des deutschen Rechts aber darin bestand, über eine rechtliche Verbesserung der Lage der bewidmeten Bevölkerung sowohl neue Menschen in bevölkerungsarme Gegenden zu locken als auch die Produktivität der Gemeinschaften und damit ihr Steueraufkommen zu erhöhen, erkennt man leicht, warum das deutsche Recht von Anfang an dazu tendierte, sich vom deutschen Ethnikum zu lösen und letztlich eine Sache der Interaktion zwischen verschiedenen Staaten zu werden. Es war im Sinn der Initiatoren der Rechtsverleihung, also der Könige, der Bischöfe und Äbte sowie des Adels, ihre Herrschaftsbereiche zu »modernisieren«, d. h. die Abgabenerhebung durch Rationalisierung und Standardisierung attraktiver und damit letztlich effizienter zu gestalten