Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung. Richard Bletschacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Bletschacher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990129258
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was bisher gesagt und getan wurde und einzugestehen, wohin es geführt hat. Die Nachkommenden aber haben zu prüfen was weiter geschehen soll.

      Es ist dem Menschen seit einigen Jahrzehnten nun schon gelungen, sich so weit über die Erde zu erheben, dass er sie mit einem einzigen Blick zu umfassen vermag. Es ist ihm gelungen, sie bis in ihre verborgenen Winkel zu besiedeln und diese wie Krebsgeschwüre wachsenden Siedlungen mit einem Netz von Nachrichten und Handelsbeziehungen zu verbinden. Vervielfacht, vertausendfacht haben sich die Menschen in ihren Städten. Die Fernsten sind Nachbarn geworden. Antipoden besuchen einander und reisen weiter oder zurück, zum Vergnügen oder in Geschäften. Handelsrecht, Seerecht und Völkerrecht, Verkehrsregeln und Höflichkeitsformen haben sich bei solchem Austausch von Besuchen, Nachrichten und Waren längst im Einvernehmen neu etabliert. Handlungen erscheinen uns heute als selbstverständlich, die man sich vor wenigen Generationen noch nicht einmal vorzustellen vermochte.

      Was wir aus eigenem Interesse suchen oder meiden sollen, das meinen wir wohl zu wissen, das hat man uns gelehrt, vielleicht auch haben wir’s geprüft und erfahren, nicht aber hat man uns überliefert oder wissen wir gar aus eigenem Denken, was im Interesse aller auf dieser Erde Lebenden zu tun oder zu lassen sei. Die Welt ist darüber uneins geworden. Das gemeinsame Gut unersetzlicher Bodenschätze wird für nichtigen Luxus von wenigen verschleudert. Das Wasser der Meere, aus dem alles Leben kommt, wird als Abfallgrube missbraucht. Tiere, die manchen Gemeinschaften als heilig gelten, werden in anderen wie leblose Ware gehandelt. Verloren gegangen ist darüber das Bewusstsein, dass einer, der sich die Gabe des Denkens, Sprechens und Schreibens errungen hat, Verantwortung trägt, weit und immer weiter über sich hinaus.

      Jene, die über die ethische Frage untereinander diskutiert und oft auch gestritten haben, schieden sich in den uns überblickbaren Zeiten in mehrere Denkschulen. Die einen wollten das Gute und das Böse auf unwandelbare Naturgesetze zurückführen, die von der menschlichen Vernunft erkennbar seien und von denen das menschliche Gewissen sichere Nachricht habe. Die anderen hielten dagegen, dass jedes der getrennt lebenden Völker sich einen eigenen Götterhimmel geschaffen habe und man einem Hindu keine vom Christentum und einem Juden keine vom Buddhismus, ja, nicht einmal einem Athener keine von Sparta vertretenen Werte aufzwingen dürfe. Die dritten meinten, dass es weder einen göttlichen Auftrag noch ein frei schwebendes Gewissen geben könne, dass vielmehr unser Denken und Handeln geprägt sei von Herkunft, Nachbarschaft, Freundschaft, Erziehung und Schule, und dass auf solche Weise unsere moralischen Überzeugungen durch unsere Gemeinschaftszugehörigkeit geprägt seien. Und dass ein jeder, der die Waffe zur Hand nehme, um sein Land, seine Familie, sein Hab und Gut zu verteidigen, im Grunde vor allem seine überkommenen, seine ihm auferlegten Werte zu bewahren suche. Die vierten wiederum forderten, man müsse eine Ethik, die alle leiten solle, in einem Zeitalter, das fähig und vielleicht auch bereit sei, der bewohnbaren Welt den Untergang zu bereiten, neu erdenken und diese aus der Verfügung der Religionen, der Sitten und Traditionen lösen, um sie dem Einzelnen zuzuweisen. Im Einzelnen leiden wir alle. Auch kann nur der Einzelne für die gute Tat gelobt und für die böse Tat getadelt werden. Schuld und Ehre sind nicht übertragbar, wenngleich es mehreren Einzelnen immer wieder gelingt, sich zu einem gemeinsamen Ziel zu verschwören. Den Schwur aber muss jeder für sich leisten und haftbar bleibt ein jeder für sich. Jeder Einzelne gibt sein Teil am Bau und Erhalt unserer Welt.

      Die meisten unter uns haben sich über den Satz der deutschen Verfassung verständigt, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Auf welchem Grund baut diese Überzeugung? Die einen vermuten, die Würde des Menschen sei ihm in die Wiege gelegt, die anderen sagen, der Mensch sei nach dem Gleichnis seiner Götter geschaffen und eben darauf gründe sich, was er Würde nenne; und wieder andere meinen, so etwas wie die Überzeugung von eigener Würde habe es nicht zu allen Zeiten gegeben, die habe der Mensch erworben durch seinen Beitrag zur Gemeinschaft, will heißen: durch seine nützliche Arbeit an der Gestaltung der Welt. Andere wiederum behaupten, er habe seine Würde sich selbst verliehen und durch allmählich wachsende Selbstbehauptung erworben, sie gründe sich auf seine Vernunft und seine Fähigkeit, sich selbst und die Welt zu erkennen, zu prüfen und zu verändern. Was aber Würde eigentlich sei bleibt unbefragt. Ist sie eine Selbstermächtigung, die den Menschen über alles andere Leben erhebt und aller Verantwortung diesem gegenüber entledigt? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten in einer Epoche, in der Tausende, deren Würde unantastbar sein sollte, erschlagen, hingerichtet, vertrieben oder dem Hungertod überlassen werden. Wüsste man es, so wären alle Fragen nach Gut und Böse auf der Welt mit dem Hinweis abzutun, dass das Menschenwürdige gut und das Menschenunwürdige böse sei. Die Älteren unter uns haben erfahren, dass alle Würde wie Ballast über Bord geworfen wurde, als es darum ging, das bloße Leben zu retten. Um das eine wie das andere aber aus dem Ungewissen zu heben und näher zu betrachten, müssen wir einen Schritt zurücktreten von solchen unvermittelt zupackenden Fragen und damit beginnen zu untersuchen, was bisher getan und gedacht wurde, um uns danach auf den Weg zu einer von uns selbst neu zu begründenden Antwort zu machen.

      Aus dem von den Stoikern erstmals behaupteten Naturrecht und dem von Thomas von Aquin neben den göttlichen formulierten menschlichen Rechten lassen sich, wenn man ihnen folgen will, die Grundrechte auf Leben, auf Fortpflanzung, auf Gemeinschaft und auf Erkenntnissuche ableiten. Solange unsere animalischen Wurzeln noch unser Dasein selbst in den avanciertesten Gesellschaften bestimmen, hat man aus all diesen folgernd ein weiteres Recht, das Recht auf Besitz und Eigentum in Anspruch genommen. Denn dieses sichere uns, wie wir dachten, das ungestörte Verfolgen all der anderen Rechte. Es sichere uns Herberge, Nahrung und Schutz vor Hitze und Kälte, Raum für die Aufzucht von Kindern. Und dieses Recht wird auch für die Nachkommenschaft dringend eingefordert. Die sogenannten liberalen Gesellschaften haben dem ihr besonderes Gewicht gegeben. Und doch wird der Tag kommen, an dem auch hierüber eine neue Verständigung vereinbart werden muss. Denn letztlich werden hier nur Bedürfnisse zu Rechten erklärt. Das Gedränge aber wird größer auf unserer Erde. In wenigen Jahrzehnten schon wird die Bevölkerung von Afrika sich vervierfachen, die Weltbevölkerung sich verdoppeln. Und die Ressourcen schwinden. Wenn wir uns nicht neu zu teilen entschließen, werden mörderische Kämpfe zu erwarten sein. Auf Dauer wird das Eigentum nicht sakrosankt bleiben können. Es wird sich jeder mit dem bescheiden müssen, was ihm zum Leben unverzichtbar notwendig ist und wird das abgeben müssen, was nur mehr dazu dienen kann, Macht zu üben über andere Menschen.

      So wie der durch keine Theorien zu leugnende Schmerz der Garant für die Erhaltung des eigenen Lebens ist, so ist die Liebe der Garant für das Überleben der Spezies. Zumal die Elternliebe in allen Bereichen animalischen Lebens auch dem nüchternsten Geist wie ein immer wiederkehrendes Wunder erscheint, das nicht weiter hinterfragt wird. Ohne sie wäre alles Leben auf Erden längst ausgestorben. Dennoch hat, bedingt durch die Fortschritte der modernen Medizin und Hygiene, die Fortpflanzung und Erhaltung menschlichen Lebens seit einigen Dezennien ein solches Übermaß angenommen, dass der Bestand der Erde allein durch ihre Übervölkerung bedroht erscheint.

      Selbstbehauptung, Nahrungssuche und Reviersicherung scheinen ebenso wie Fortpflanzung und Aufzucht des Nachwuchses existenzielle Bedürfnisse aller Lebewesen zu sein. Grenzen sind aber dort zu ziehen, wo sich die Sorge um den eigenen Lebensunterhalt und den der Nachkommen zum Schaden anderer auswächst oder wo sich Eigentumserwerb auf andere Menschen erstrecken möchte oder sich in einem Maße vervielfältigt, dass der Lebensraum anderer Wesen bedroht wird. Denn auch Tiere und Pflanzen haben ihr autochtones Geburtsrecht und sind mit allen Fähigkeiten ausgestattet sich zu erhalten und zu vermehren. In der Geschichte haben verschiedene Gesellschaftssysteme immer wieder fördernd oder begrenzend in die Naturrechte des Menschen eingegriffen, sei es durch Unterdrückung, sei es durch Enteignung, sei es durch Entmündigung oder durch Schlimmeres. In manchen Epochen haben die Verwaltungen von Staaten die Rechte der Eltern verkürzt und die Erziehung der nächsten Generation an sich gezogen. Sie haben auf solche Weise die familiären Bindungen zu lösen versucht, um die Menschen ihren Zielen dienstbar zu machen, als Arbeitskräfte, als Dienstleister oder als Kämpfer. Auch wurden Eigentumsrechte auf Grundbesitz oder Produktionsmittel beschnitten oder gänzlich aufgehoben, um sie der Gemeinschaft zu übertragen. Da jedoch diese Gemeinschaften stets die Durchführung ihrer Maßnahmen wiederum an Einzelne delegieren mussten, sei es durch Wahl, durch Willkür oder durch Auftrag, so entstanden oligarchische Machtstrukturen, die die Freiheit der Einzelnen in den Gemeinschaften selbst wiederum bedrohten.