Diese Wiederverzauberung gelang vor einem knappen Jahrzehnt einem Seiteneinsteiger. Der Kultur- und Umwelthistoriker Joachim Radkau verblüffte die Fachwelt und faszinierte eine breite Leserschaft mit einer fulminanten Biographie, die jeden postmodernen Zweifel am Genre souverän ignorierte: Familie, Epochenprägung, Sexualität, Krankheitsgeschichte, Sucht und Leidenschaft verwob Radkau zu einer Lebenserzählung, die Webers intellektuellen Denkweg umso faszinierender machte, je klarer die Abgründe erkennbar waren, die Webers Psyche offenbarten. Dass der von der Natur „vergewaltigte“ und später von Depressionen heimgesuchte Weber schließlich im Tunnel von Bruchsal mit Else Jaffé-Richthofen die erotische Erlösung fand, ist nur eine Pointe, auf welche die Weber-Orthodoxie Radkaus Enthüllungsbuch zu reduzieren suchte. Zu Unrecht, denn Radkaus charakterologische Studie bietet weit mehr als Freudianismus und Psychohistorie. Man mag darüber streiten, ob das Ausleben masochistischer Phantasien zur finalen sexuellen Befreiung Webers geführt hat, ob die Diagnose einer Schizophrenie wirklich stichhaltig oder ob der versteckte Naturalismus die geheime Triebfeder seines Denkens war. Die nur leicht überarbeitete Neuauflage von Radkaus Werk präsentiert sich aber nicht zuletzt deshalb so frisch, weil der Bielefelder Historiker Webers Leben originell beleuchtet und ihn gerade nicht als einsamen Solitär, sondern als kommunizierenden, streitenden und in Debatten eingebundenen Gelehrten präsentiert. Wenn Radkau die spannungsreichen intellektuellen Freundschaften zu Friedrich Naumann, Werner Sombart, Ernst Troeltsch oder Robert Michels schildert, läuft er zu Höchstform auf.
Webers Vielseitigkeit, sein fast maßloser Erkenntnishunger und sein Ringen um Erklärungen, die das So-Geworden-Sein der modernen Welt dechiffrieren, machten ihn zu einem Komplexitätsdenker, der keine vereinseitigenden Thesen zuließ. Radkaus Biographie offenbart, dass Webers häufig gepriesener Realismus am ehesten in seinem vieldimensionalen Problembewusstsein, in der dauernden Anstrengung um Selbstkontrolle und im Aushaltenmüssen von Widersprüchen zu orten ist. Radkau wählt mit Bedacht den Leitbegriff der „Leidenschaft“, um Webers Motivationsgründe zu beschreiben: „Die Leidenschaft zur modernen Wissenschaft läßt sich aus keinem großen Ziel keinem höheren Sinn herleiten. Weber schwieg, wenn man ihn nach einem Lebenssinn der Wissenschaft fragte“, man könne sich seinen Drang zur Wissenschaft eben nur „als einen naturhaften Trieb“ vorstellen. Das mag aus philologisch-hermeneutischer Sicht unbefriedigend bleiben, macht aber deutlich, dass sich besondere Begabung und wissenschaftliche Leistungen –Verirrungen inklusive – eben nicht immer auf rationale Gründe oder gute Absichten zurückführen lassen. Erst recht nicht bei jemandem, dessen „heroischer Skeptizismus“ (so Ernst Troeltsch in seinem Nachruf) ihn dazu brachte, der „Forderung des Tages“ gerecht zu werden, die für Weber bekanntlich lautete, dass „jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält“.
Weil es Radkau gelang, Weber zu historisieren, sein psychisches Martyrium zu schildern, seine politischen Irrungen und Lernprozesse offenzulegen, ohne dass dieser Ausnahmegelehrte an Faszination einbüßte, durfte man gespannt sein, welche neuen Akzente die Biographien des Jubiläumsjahres von Dirk Kaesler und Jürgen Kaube setzen würden. Kaesler weckte besondere Erwartungen: Zum einen hatte er sich seit Jahrzehnten mit Weber beschäftigt, zum anderen widmete er dem Konkurrenten Radkau seinerzeit einen harschen doppelseitigen Verriss im Spiegel. Kein kluger Schachzug. Dadurch senkt sich für jeden Rezensenten nun die Hemmschwelle, das Urteil über Kaeslers desaströs missratene Darstellung mit höflichen Floskeln zu kaschieren. Geschrieben sei das Buch, so Friedrich Wilhelm Graf völlig zutreffend in der Süddeutschen Zeitung, „in einem teils grausam unbeholfenen, teils peinlich pathetischen Deutsch, das die Lektüre zu einer Qual macht“. Was Graf damit meint, wird schnell klar, wenn man das Buch an einer beliebigen Stelle aufschlägt. Gravitätisch und verschmockt ist stets vom „Herrn Studiosus“, „Herrn Doktor“ oder „Herrn Professor“ und fast durchgängig von „Max Weber jun.“ die Rede; dauernd wird eine „Bühne bereitet“, auf der vermeintlich bürgerliche Formen nachgespielt werden; die Hälfte des Textes besteht aus seitenlangen Zitaten, die zumeist Mariannes „Lebensbild“ entnommen sind. All dies geschieht, weil der Autor keinen eigenen Erzählfaden außerhalb der Chronologie, keine Leitmotive und keine eigene Sprache findet, auf über 930 Textseiten aber auf jeden Quellenbeleg verzichtet. Es ist in der Tat kaum ein Leser vorstellbar, der sich durch diese Anhäufung von Fakten wühlt, ohne an der Unfähigkeit des Autors zu verzweifeln, Wichtiges vom Irrelevanten zu trennen. „Max Weber ist nicht unser Zeitgenosse“, für sein Leben gibt es „keinen Regisseur, aber viele Mitwirkende“ – diese pompös servierten Banalitäten sind enervierend. Zudem ist es ein Ärgernis, dass Kaesler sich allzu häufig hinter dem Urteil anderer Weber-Interpreten verschanzt, anstatt zu eigenen Schlüssen zu kommen.
Der gegen Radkau geäußerte Vorwurf, ein indiskreter Schlüssellochhistoriker zu sein, trifft auf Kaesler selbst mit weit größerer Berechtigung zu. Extensiv wird über alles Mögliche spekuliert. Sogar Webers Ableben wird mythisch gedeutet: „Es dürfte kein Zufall sein, dass Max Weber gerade mal fünf Monate nach dem Tod seiner Mutter stirbt.“ Beckmesserisch könnte man Kaesler vorhalten, dass es acht Monate waren, aber das ist dann auch egal, denn insgesamt „gewinnt man den Eindruck, dass er innerlich an sein Ende gekommen war“. Zugleich erkannte Weber, „dass Else Jaffé die Liebe seines Lebens war“. Der „Muttersohn“ folgt trotzdem lebenssatt der Mama in den Tod? Solche auf vielen Seiten ausgebreiteten Trivialitäten sind deswegen erwähnenswert, weil Kaeslers Buch den Leser zwar mit Fakten erschlägt, aber vor allem in den Werkdeutungen langatmig und oberflächlich bleibt. Die Identifikation mit dem Gegenstand führt bei Kaesler zur hagiographischen Umkreisung seines Helden.
Distanzlosigkeit ist Jürgen Kaubes abgeklärter, souverän komponierter Weber-Biographie gewiss nicht vorzuhalten. Mit der Könnerschaft des profunden Wissenschaftsjournalisten arrangiert der FAZ-Redakteur Kaube Werk und Werdegang in fein gearbeiteten, pointensicheren Kurzkapiteln. Als „Leben zwischen den Epochen“ macht Kaube Webers Erfahrungen von Ungleichzeitigkeiten und Bruchlinien plausibel. Privat ging für Weber „alles zu langsam, gesellschaftlich alles zu schnell“. Kaube arbeitet Webers epigonales Selbstverständnis heraus: Obwohl er sich emphatisch als Mitglied der „bürgerlichen Klassen“ bekannte, kam er nicht umhin, „den Geist liberalen Bürgertums fast nur noch in Erinnerungen an seine vergangene Größe repräsentiert“ zu sehen. Eine vergangene Größe, von der Weber materiell profitierte, aber an deren Maßstab seine eigene bürgerliche Existenz zu Lebzeiten unheroisch wirkte: „kein Buch, keine Kinder, kein Krieg, kein Vermögen, kein Einfluss“.
In Webers Art, historisch zu denken, werden soziale, wirtschaftliche und religiöse Ursprünge umso fremder, je besser man sie versteht. Das bedeutet für ihn, dass sich Gewissheit und „der unmittelbare Glaube mittels Wissenschaft nicht zurückgewinnen lässt“. Weltanschauung kann weder letzte Gründe noch normative Orientierung liefern, das politische Urteil bleibt zweckgebunden, Interessen und Machtverhältnisse kalkulierend. Max Weber, das zeigt Kaube anschaulich, war ein okkasioneller und reaktiver Denker, der anlassbezogen zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten kam: die Struktur der ostelbischen Landwirtschaft, das Börsenwesen, die Lage der bürgerlichen Demokratie