Er brauchte etwas länger, sie wiederzuerkennen: „Isa Vandenburg aus der Gustav-Stresemann-Grundschule?“
Jahre zuvor, am Mainzer Bahnhof, hatte sie nicht sehr vorteilhaft ausgesehen, dicker Bauch, strähniges Haar und ein verquollenes, bleiches Gesicht, mit Ringen unter den nicht ausgeschlafenen Augen. Das alles hatte sich danach sehr zum Besseren verändert. Ausgesprochen schlank und sportlich, kein Bauch, schmale Hüften, strammer und fester Busen, blonde Locken, blauen Augen und tief gebräunt. Das alles aufreizend verpackt in einem weißen knappen Bikini. Eine sexy Schönheit und, wie sich bald herausstellte, ohne eine ihn störende männliche Begleitung auf der Insel. Schon bei ihrer ersten Verabredung erzählte sie, dass sie gesunde Zwillinge bekommen hatte, Julia und Jonas. Am Abend, als sie nach einem hervorragenden Essen noch einen Wein tranken und dabei auf das abendliche Meer schauten, fragte er nach dem Vater von Julia und Jonas, den Namen wollte sie nicht nennen, nur so viel preisgeben, dass er sie unmittelbar nach der Entbindung aus, wie sie damals schon fand, fadenscheinigen Gründen verlassen hatte. Immerhin habe er die Vaterschaft anerkannt und sich verpflichtet, monatlich sehr anständig Unterhalt zu zahlen – was er tatsächlich noch immer tat. Aber sie musste die Kunstakademie verlassen und sich einen Job suchen. Mit zwei Säuglingen nicht ganz einfach, wie sie klagte. Zum Glück half ihre jüngere Schwester Ilka aus, auch Isas Mutter sprang häufiger ein, und als sie für die Kinder einen verlässlichen Hort gefunden hatte, ging es auch beruflich aufwärts. Ihr damaliger Freund suchte eine zuverlässige Mitarbeiterin und stellte sie zu sehr generösen Bedingungen in seiner Firma Utom Import & Export ein. Jetzt war sie in der Frankfurter Import- und Exportfirma die Sekretärin des einen Chefs und so etwas wie eine Geschäftsführerin mit einem sehr guten Gehalt, einer Gewinnbeteiligung und ziemlich weitreichenden Kompetenzen.
Der Wein war gut, das Meer glitzerte romantisch, der Mond strahlte fast kitschig, und vor dem Eingang ihres Bungalows küssten sie sich lange und heftig, Isa presste sich fest an ihn, nahm ihn aber nicht mit hinein. Die nächsten Tage verbrachten sie vom Morgen bis zum Abend zusammen und schon in der zweiten Nacht ging sie mit ihm ins Bett. Rudi hatte damals keine Freundin, die junge Dame, von der er gehofft hatte, sie würde es werden, hatte sich vier Tag vor dem Abflug kurz und ohne Begründung für immer verabschiedet. Außerdem verstanden Isa und er sich sehr gut, die alte Vertrautheit aus der Grundschulzeit hatte sich, wenn auch in angenehm veränderter Form, erhalten.
Auch, dass er zur Polizei gegangen war, gefiel ihr. Sie drückte ihm die Daumen, dass sein Wunsch, zur Kriminalpolizei zu wechseln, bald in Erfüllung ging. Beamter, das war doch was Solides, und als er begann, sich Hoffnungen zu machen und heimlich Pläne zu schmieden, bekam sie einen Anruf aus Frankfurt und gleich danach veränderte sich ihr Verhalten.
Zwar schliefen sie noch immer jede Nacht miteinander, aber er hatte gleichwohl den festen und unangenehmen Eindruck, dass sie sich zurückzog. Sie musste vor ihm nach Deutschland zurückfliegen, und am Abend, als sie schon gepackt hatte, gestand sie ihm, dass sie in Frankfurt von einem Mann erwartet wurde.
„Rufe mich bitte nicht an, Rudi.“
„Willst du mir nicht sagen, wer auf dich wartet?“
„Nein, das möchte ich nicht. Es war wunderschön mit dir, ich werde dich und diese herrlichen Tage und Nächte nie vergessen. Aber es war leider nur ein schöner Urlaub vom Alltag und in meinem Alltag ist die Position des festen Liebhabers schon besetzt.“ Er dache, einer der alten Vulkane der Insel sei erneut ausgebrochen und er werde gerade von glühender Lava verschüttet. Doch sie blieb hart und ließ sich nicht umstimmen. Vor fünfzehn Jahren hatte er Isa das letzte Mal gesehen, als sie morgens in den Bus stieg, der sie zum Flughafen in Arrecife brachte.
Rudi hatte lange gebraucht, um über diese herbe Enttäuschung hinwegzukommen, und noch länger hatte es gedauert, bis er nachts nicht mehr von Isa träumte oder andere Frauen, die er kennen lernte, mit ihr verglich. Das alles konnte und wollte er dem Chef nicht auf die Nase binden. Denn der hätte ihn dann auf keinen Fall im Schutzprogramm Vandenburg mitarbeiten lassen, und in der Sekunde, in der Rudi von Rotters Unglück gehört hatte, stand für ihn fest, dass er Isa wiedersehen wollte, beruflich zuerst, dann hoffentlich auch privat. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, als sie ihn auf Lanzarote verließ, heute war sie vierzig, und in dem Alter sah die Welt auch für sie sicher anders aus.
„Was überlegst du, Rudi?“
„Ich überlege, wo der Haken sein kann.“
„Welcher Haken?“
„Warum fragst du mich nicht direkt, ob ich Rotters Stelle bei Isa Vandenburg einnehmen will?“
„Weil ich nicht weiß, ob sie denn überhaupt weiterhin Polizeischutz haben will.“
„Dann rufe sie doch an und frage sie einfach.“
„Das kann ich nicht.“
„Und warum nicht?“
„Wir haben uns heute natürlich auch darüber unterhalten, wie die Bande ihr auf die Spur gekommen sein kann.“
Rudi ging ein Licht auf. „Hat man ihr Handy angepeilt oder über die Funkzelle gefunden?“
Fichte hob die Hände zur Decke.
„Ist doch möglich, oder? Jedenfalls wusste sie sofort, wovon ich sprach und hat mir freiwillig zugesichert, sie würde unmittelbar nach Ende unseres Gesprächs ihr Handy ausschalten. „Was sie auch getan hat, ich habe sie gerade eben vor unserem Gespräch schon nicht mehr erreicht.“
„Und wohin hast du sie geschickt?“
„In die Erbsensuppe.“
„Das heißt ...?“
„Das heißt, dass du auf gut Glück hinfahren müsstest und fragen darfst, sind Sie oder bist du einverstanden, dass ich Sie oder dich künftig bei Tag und Nacht beschütze? Wenn wir viel Glück haben, sagt sie ja.“
„Hast du ihr die Waffe abgenommen?“
„Nein.“
„Dann ist auch ein anderer Ablauf denkbar. Ich will in ihr Zimmer kommen und sie wird nervös. Eine gute Schützin soll sie ja sein und in ihrer Nervosität verpasst sie mir auch einen prächtigen Kopfschuss. Ich weiß nicht, ob ich das überlebe, Chef.“
„Quatschkopf. Gib dir Mühe und sei vorsichtig, ich habe überhaupt den Eindruck, das empfiehlt sich bei dieser Frau ohnehin. Lederer hat mich auch gewarnt.“
„Okay, ich fahre hin und versuche sie umzustimmen. Für alle Fälle werde ich dafür sorgen, dass unsere Handys abgeschaltet und täglich nur zwischen 17 und 18 Uhr eingeschaltet sind. In der Zeit werde ich dich auch anrufen, wenn nicht vom Handy, dann von irgendwoher über's Festnetz. Es soll ja auch noch funktionierende Telefonzellen geben. Von den Kollegen erfährt niemand, mit welchem Auftrag ich unterwegs bin. Wie steht's mit Spesen?“
„Wenn ich sage, kein Limit, heißt das nicht, dass du versuchen sollst, eine Spielbank zu sprengen.“
„Ich würde den Gewinn ungeschmälert bei Vater Staat abliefern.“
„Trotzdem nein.“
„Alles klar. Ich nehme mir eine neue Heckler und Koch mit – keine Angst, ich schieße sie korrekt ein und gebe die Vergleichsprojektile beim Donnerer ab.“
Warum Ewald Thor der Donnerer hieß, musste eigentlich niemandem erklärt werden. Er war zuständig für den Schießkeller und die Waffenkammer des Amtes, führte die Listen, wer welche Waffe bekommen und wer wann seine vorgeschriebenen Schießübungen mit welchen Ergebnis absolviert hatte. Außerdem gab er Schießunterricht, er war ein hervorragender Lehrer und ein noch besserer Schütze.
Der Chef kritzelte schon eine Anforderung einer neue Dienstwaffe für den Kriminalhauptkommissar Rudolf Herzog, Abteilung Zeugenschutz.
„Wie lange darf ich die schöne Isa hautnah begleiten?“
„Du musst sie am Mittwoch, 18. Juni, um elf Uhr lebend im Wiesbadener Landgericht,