Zweitsommer. Isolde Kakoschky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Kakoschky
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783967525502
Скачать книгу
durch die Stadt und auch ein Verein der örtlichen Tageszeitung half mit Spenden weiter.

      Berit parkte das Auto und öffnete die Tür. Der Raum war erfüllt von lauten Kinderstimmen, von Durcheinanderrufen, Streiten, Kreischen, aber auch Lachen. An diesem Ferientag war schon am Morgen ein emsiges Treiben im Gang. Mit einem Winken begrüßte sie ihre Kollegin, dann betrat sie das Büro.

      Sie stellte die Tasche ab und ließ ihren Blick über den Schreibtisch wandern. Schon wieder ein Antrag, schon wieder ein Fragebogen! Sie schüttelte instinktiv den Kopf. Viel zu viel Zeit ging für die Bürokratie drauf, von den Kosten ganz zu schweigen. Doch sie wusste auch, dass es ein notwendiges Übel war.

      Die Kinder waren beschäftigt, also setzte sich Berit gleich an den Schreibtisch und sichtete die eingegangene Post genauer. So schwer es ihr auch fiel, es war wichtig, die Termine für die Anträge einzuhalten, um Geld oder Genehmigungen zu bekommen. Es wäre den Kindern kaum zu vermitteln gewesen, wenn ein Ausflug ins Wasser fallen müsste wegen eines Stück Papiers. Darum musste sie sich auch heute noch durch den Papierkram kämpfen, denn morgen sollte es mit einem Teil der Kinder auf eine richtige Reise gehen.

      Am Nachmittag hatte Berit fast alles aufgearbeitet, was in der letzten Woche liegen geblieben war. Sie ging hinüber in den großen Aufenthaltsraum und half den letzten Kindern, die noch da waren beim Aufräumen.

      »Frau Schwerzer, ich freue mich schon so auf morgen!«, vernahm sie die Stimme der 13jährigen Emily. Das Mädchen war in ihrem ganzen Leben noch nicht von zuhause fort gewesen. Berit drückte das Kind an sich. Emily hatte ein bisschen Freude redlich verdient. Als Älteste von 4 Geschwistern lastete oft mehr Verantwortung auf ihr, als gut war in dem Alter. Auch ihre beiden jüngeren Schwestern, 10 und 12 Jahre alt, würden morgen mit auf die Reise gehen.

      »Na dann geh mal lieber nach Hause und hilf den Kleinen beim Sachen packen. Und seid morgen bitte pünktlich!«, ermahnte Berit das Mädchen.

      Auch bei Berit stellte sich nun eine gewisse Vorfreude ein. Es war die erste mehrtägige Reise, die das Kinderhaus durchführte. Ihre Julia hätte womöglich die Nase gerümpft über diese Reise, deren Ziel gerade einmal 20 Kilometer von der Stadt entfernt lag. Doch für diese Kinder, deren Eltern nicht einmal das Geld für die Klassenreise aufbrachten, war es das Ereignis des Jahres.

      Auf dem Rückweg nach Hause hielt Berit noch einmal bei ihrer Mutter an. Schließlich musste sie ihr Bescheid sagen, dass sie für drei Tage nicht hier war. Das gute Gefühl, was sie am Sonntag gehabt hatte, war verflogen. Die Mutter saß gedankenverloren auf dem Sofa und sah mit starrem Blick auf ein Bild gegenüber an der Wand, das sie gemeinsam mit ihrem Heinrich zur Goldenen Hochzeit zeigte. Es war erst ein paar Jahre her, doch nun für sie so fern wie die Ewigkeit. Berit setzte sich zu ihrer Mutter und sah sie nachdenklich an. Die Eltern waren wirklich ein Leben lang zusammen gewesen. Schon als Kinder hatten sie sich gekannt, später geheiratet und nahezu jeden Tag ihres Lebens gemeinsam verbracht. Berit verstand, dass es der Mutter jetzt schlecht ging. Doch die Kinder und Enkel konnten sie nur unterstützen, bewältigen musste sie ihre Trauer allein.

      Als Berit wieder zuhause angekommen war, rief sie ihre Schwester an und berichtete ihr, wie es der Mutter ging.

      »Fährst du bitte morgen und vielleicht auch übermorgen mal bei ihr vorbei?«, bat sie Jana. »Julia wird sie auch besuchen, aber du stehst ihr doch näher.«

      »Natürlich mache ich das!«, erwiderte Jana verständnisvoll. »Das ist doch nach der Arbeit gar kein Problem. Und außer dem Hund wartet ja auch niemand auf mich. Also werde ich mich bei Mama zum Abendbrot einladen. Fahr du nur ganz unbesorgt mit den Kindern los!«

      Trotz der beruhigenden Worte ihrer Schwester gingen Berit tausend Gedanken durch den Kopf, als sie ihre Reisetasche für den morgigen Tag vorbereitete. Nein, um ihren Mann und Julia musste sie sich nicht sorgen. Die beiden kamen gut alleine klar. Aber die Mutter erschien ihr momentan hilfsbedürftig wie ein kleines Kind. Wenn sich Berit an ihre Kindheit und Jugend erinnerte, dann hatte die Mutter immer alle Geschicke der Familie in den Händen gehabt. Oft hatte sie so etwas wie unsichtbare Fäden geführt, um ihre Lieben zu lenken und zu leiten. Doch nun stellte sich heraus, dass es einen schwachen Punkt an ihr gab, dass die starke Frau ohne ihren geliebten Heinrich kraftlos war.

      Berit schob die Gedanken beiseite. Gleich würde Daniel aus dem Geschäft kommen, dann sollte das Essen auf dem Tisch stehen. Also, keine Zeit für Grübeleien.

      Zum Glück ließen die Erinnerungen Berit in der Nacht in Ruhe schlafen und so erwachte sie recht ausgeruht am nächsten Morgen. Zusammen mit Daniel war sie aufgestanden und sie hatten sich auch noch einen gemeinsamen Kaffee gegönnt. Doch dann drängte die Zeit.

      Berit verstaute ihr Gepäck im Auto und setzte sich neben Daniel auf den Beifahrersitz. Er wollte seine Frau schnell noch vor der Arbeit zum Kinderhaus bringen und dann das Auto wieder mit zurück nehmen. Dann musste der Audi nicht drei Tage lang herrenlos im Neubaugebiet stehen. Es war schon ein sozialer Brennpunkt geworden in den letzten Jahren. Als die Neubauten vor 30 Jahren gebaut wurden, waren sie überaus begehrt. Denn im Vergleich zu den winzigen Bergmannshäusern, in denen es oft noch nicht einmal eine Innentoilette gab, besaßen die Plattenbauten mit Heizung, Warmwasser und Bad den reinsten Luxus. Doch nach und nach waren die besser gestellten Bewohner abgewandert, hatten sich ein Häuschen gebaut oder waren der Arbeit hinterher gezogen, in den Westen Deutschlands. Übrig blieben die sozial Schwachen, Arbeitslose, Rentner und Umsiedler aus Russland.

      Und genau aus diesen Schichten kamen auch die Kinder, die ein wenig Geborgenheit und Zuwendung so nötig hatten, wie Essen und Trinken.

      Ein Dutzend aufgeregter Kinder stand dann auch schon schnatternd wie ein Entenschwarm auf dem Platz vor dem Haus.

      »Hallo Berit, da bist du ja!«, tönte ihr eine Stimme aus einem weißen Kleintransporter entgegen. Es war Thomas, ihr Kollege, der sie und die Kinder begleiten sollte. Berit drückte ihrem Mann noch schnell einen Kuss auf die Wange und war im nächsten Moment von der munteren Truppe umringt.

      Inzwischen hatte Thomas den zweiten Kleinbus vor das Haus gefahren. »Sind schon alle da?« Er sah in die Runde und nickte zufrieden. »Es sieht so aus, als wären wir vollzählig. Keiner hat verschlafen.« Thomas lachte. »An Schultagen sieht das meistens nicht so gut aus.« Auch er kannte die Probleme. Thomas war vor fast zwei Jahren als Zivildienstleistender ins Kinderhaus gekommen. Der Dienst war längst vorbei, doch er war der Einrichtung als freiwilliger Helfer erhalten geblieben. Für

      diese Fahrt hatte er sogar drei Tage Urlaub geopfert.

      »Alles einsteigen!« Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. In jedem Fahrzeug fanden sechs der Kinder einen Platz. »Sind auch alle angeschnallt?« Nach einem einmütigen »Ja!« starteten die beiden Betreuer die Fahrzeuge und es ging los. Zuerst hinunter in die Altstadt, von dort aus folgte der Reiseweg dem Flüsschen, das zwar nicht immer für die Kinder sichtbar war, aber mehrfach von der Straße gekreuzt wurde. Sie durchquerten einen kleinen Vorort und näherten sich schon bald Mansfeld, dem Ort, welcher der Region ihren Namen gegeben hatte. Die Kinder verrenkten sich fast die Hälse, als sie oben auf dem Berg das Schloss sahen. Berit war tief berührt von den staunenden Blicken dieser Kinder, als sie kurz in den Rückspiegel sah.

      Kurz darauf bogen die beiden Kleinbusse nach rechts auf eine etwas schmalere Straße ab, auf der sie bald ein Dorf durchquerten. »Frau Schwerzer, hier war ich schon mal!«, rief hinter ihr ein Junge.

      »Da kommt ein Teich und da war ich mal mit meinem Opa angeln!« Der Junge strahlte übers ganze Gesicht. Zum einen war er stolz, etwas zu wissen, und zum anderen schien er sich gern an den Angelausflug mit seinem Opa zu erinnern.

      »Oh, das ist ja prima, Kevin, dann kannst du ja nachher für uns der Wanderführer sein. Dann können wir uns nicht verlaufen«, schlug Berit vor.

      »So, jetzt sind wir gleich da.« Der kleine Kindertransport bog nach links in einen Waldweg ab und hielt kurz darauf vor der Jugendherberge an.

      »Alles aussteigen, Zug endet hier!«, ertönte die Stimme von Thomas herüber. Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. Sie schnappten sich ihre Taschen und sausten auch schon los in Richtung des