Die Mauer der Götter 1: Drachenzeichen. Alfred Bekker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alfred Bekker
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Историческая фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783745215014
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in der Stadt. All diese Eindrücke vermisste er.

      Auf der anderen Seite, dem Großen Land zugewandt, änderte sich die Landschaft nicht wesentlich. Abwechslung zeigte sich höchstens darin, bis in welche Höhe sich die Lava aufgeschichtet hatte. Die Ströme gaben höchstens Rückschluss, wie heftig die Kämpfe der Drachen gewesen sein mussten. Manchmal reichte der Lavafluss nur wenige Armlängen die Mauer empor, aber je weiter sie bis in die Mitte der Mauer kamen, umso mehr Stellen gab es, an denen nur mehr wenige Schritt freie Mauer zu sehen waren.

      Dann, nachdem sie gut 1000 Schritt zurückgelegt hatten, tauchten vor ihnen die ersten Menschen auf, die ebenfalls die Mauer bestiegen hatten. Auch sie strömten der Südgrenze der Mauer zu.

      Coling erkannte bereits von Weitem Hughar und dessen Sohn Ulanor. Ulanor war zwei Jahre älter als Hiro und ein durchtriebenes Bürschchen. Er ließ sich absolut nichts sagen. Er war ein Fanatiker und besaß seinen eigenen Kopf. Mit Hughar, seinem Vater, konnte Coling sich immerhin unterhalten, ohne dass sie sich ständig an die Kehle gingen. Das war auch gut so, denn Hughar war sein Gegenüber in Glaubensfragen. Er, Coling, stand den Baumeistern vor, Hughar führte die Wartenden. Er war der Bremser, der verhinderte, dass die Ausbesserungsarbeiten an der Mauer der Götter endlich in Angriff genommen werden konnten - zumindest war das die Ansicht von Coling.

      Kaum hatte ihn Hughar erspäht, als er stehenblieb und auf Coling und Hiro wartete. Ulanor drängte zwar zum schnellen Weitergehen, aber noch konnte ihn sein Vater bändigen. "Was willst du mit denen denn bereden?", fragte der junge Ulanor herablassend.

      "Lerne etwas Diplomatie, Sohn", sagte Hughar.

      "Wir leben nicht alleine auf der Welt. So schadet es nie, wenn man weiß, was andere über eine Sache denken, selbst wenn man sie als politische und religiöse Gegner einstuft."

      "Du vertrödelst nur deine Zeit, Vater. Ich denke, mein Weg führt schneller ans Ziel!"

      "Und wie sieht dein Weg aus, Junge?" Die Frage war nicht ernst gemeint. Hughar wusste genau, welcher Weg seinem Sohn vorschwebte, deshalb klang sein Ton spöttisch.

      "Wer die Macht hat, der bestimmt!", stellte Ulanor fest.

      "Die Macht besitzt der Hochkönig, und der hört kaum auf einen zwölfjährigen Knaben", brachte Hughar seinen Sprössling auf den Boden der Realität zurück.

      "Und nun sei still."

      Ulanor verzog seinen Mund. In seinem Inneren baute sich Ärger auf. Wollte ihn sein Vater nicht verstehen? Er ballte heimlich seine Hände zu Fäusten und steckte sie in die Taschen seiner Jacke, damit seine Wut nicht allzu deutlich sichtbar für seinen Vater und die anderen Umstehenden wurde, die sie begleiteten und ihrem Disput mit staunenden Augen folgten. Wenn Ulanor etwas abging, war es der Respekt, der seinem Vater gebührte. Ulanor fehlten die richtigen Worte, dass er seinem Vater exakt auseinandersetzen konnte, was ihm wirklich vorschwebte, denn so, wie es Hughar dargestellt hatte, war es zu vereinfacht, traf nur einen klitzekleinen Teil dessen, was er eigentlich als ideale Lösung vorsah. Klar, die Macht spielte eine Rolle, aber damit war nicht unbedingt die Macht des Hochkönigs gemeint.

      Ulanor lag die Antwort bereits auf der Zunge, aber diesmal siegte die Vernunft über seine Selbstherrlichkeit.

      Die beiden "Baumeister" waren bereits zu nahe. Sie brauchten nicht mitzubekommen, dass es zwischen Vater und Sohn eine größere Meinungsverschiedenheit gab. Nach außen hin musste die theologische Schule der Wartenden einig erscheinen.

      Hughar trat Coling sogar einen Schritt entgegen.

      "Ich sehe, du führst deinen Sohn das erste Mal auf die Mauer. Er wird also langsam erwachsen," begrüßte er den anderen mit freundlichen Worten.

      "Ja, es wurde Zeit. Er soll sich selbst ein Bild machen, wie es hier aussieht."

      "Lässt du ihm etwa immer noch die freie Wahl, welcher theologischen Schule er sich anschließt?"

      "So hat mein Vater mich erzogen und so habe ich ihn erzogen."

      Hughar ließ ein Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen, als er sich direkt an Hiro wandte: "Hast du dich bereits entschieden, Junge?"

      "Ich werde Baumeister", sagte Hiro fest, "wie mein Vater und sein Vater davor."

      "Das ist keine freie Entscheidung!", mischte sich Ulanor in das Gespräch der Erwachsenen.

      "Woher willst du das wissen, was ich denke?", schrie Hiro dem um nur zwei Jahre älteren Knaben entgegen. Dann blickte er ihn starr an, und gleich darauf war er froh, dass er nichts mehr sagen musste, als er dem Blick begegnete, den Ulanor ihm zurückwarf. Wenn Blicke töten könnten, wäre der noch nicht einmal zehnjährige Knabe auf der Stelle gestorben.

      Hiro war plötzlich sicher, dass seine Stimme bei jedem weiteren Wort gezittert hätte. Hiro war ein eher schmächtiger Knabe, seine Muskeln waren noch nicht voll entwickelt. In diesem Alter war zudem der Unterschied von zwei Jahren enorm. Ulanor strotzte nur so vor Kraft. Und er ließ seine Muskeln spielen. Er zeigte seine Kraft. Dieses Imponiergehabe hatte er bis zum Exzess geübt.

      "Man sieht es dir doch an, was du denkst."

      Hiro antwortete nur mit einem wütenden Blick.

      "Das ist meine Entscheidung", rang er sich nach einer Ewigkeit doch noch zu einer Erwiderung auf, und zu seinem Erstaunen klang seine Stimme wieder fest. Das gab ihm zusätzliche Kraft und Selbstbewusstsein. Er streckte Ulanor ganz kurz die Zunge entgegen und wandte rasch sich ab.

      Ulanor hatte es trotzdem gesehen.

      Der dachte gar nicht mehr klar nach. Im Reflex warf er sich auf den zwei Jahre jüngeren Knaben und ließ augenblicklich seine Fäuste sprechen. Gegen diese geballte Kraft hatte Hiro nicht den Hauch einer Chance.

      Coling schrie entsetzt auf und wollte dazwischentreten, aber da trat Hughar auf ihn zu und hielt ihn am Arm fest.

      "Lass die beiden das selbst ausmachen!", bellte Hughar hart.

      "Aber er ist doch noch ein Kind...", schrie Coling.

      "Du hast ihn auf die Mauer gebracht. Hier oben ist jeder für sich selbst verantwortlich. Außerdem müssen die beiden, so wie es aussieht, auch in Zukunft ihre Meinungsverschiedenheiten austragen können."

      "Aber nicht mit ihren Fäusten."

      "Jeder kämpft mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen."

      Hughar hielt Coling eisern im Griff. Der blickte fassungslos auf den Sohn seines Gegenübers, dem es scheinbar einzig darauf ankam, Hiro zu demütigen und ihm möglichst viele Schmerzen zuzufügen.

      Hiro konnte den ersten Überraschungsangriff, auf den er so gar nicht vorbereitet war, weil er nie damit gerechnet hatte, dass ein Meinungsstreit auf der Mauer auf diese Weise gelöst werden könnte, erstaunlich gut wegstecken.

      Vielleicht half ihm auch die Wut, die plötzlich in ihm aufgestiegen war. Er wollte angreifen, aber Ulanor ließ seine Schläge in einer solchen Geschwindigkeit und Härte auf ihn niederprasseln, dass er zu nicht mehr als zum Verteidigen kam. Er war froh um jeden Hieb, den er abblocken konnte. Dann zog ihm Ulanor die Beine unter dem Körper weg.

      Hiro fiel auf den Boden. Gleich darauf landete Ulanor auf dem schmächtigen Körper und umfasste Hiro, der in diesen Sekunden wie gelähmt dalag.

      Keinen halben Schritt von ihnen entfernt stand die Begrenzungsmauer, die an dieser Stelle bis auf einen kläglichen Rest an Höhe verfallen war.

      Entsetzt erkannte Coling, dass Ulanor seinen Sohn von der Mauer stoßen wollte.

      "Nennst du das noch einen fairen Kampf?", schrie Coling und riss sich von Hughar los.

      Er stürmte auf Ulanor zu. Seine Arme griffen nach dem Jungen und zerrten ihn vom Rand der Mauer weg.

      Ulanor brüllte ihm unflätige Beleidigungen entgegen. Seine Fäuste schlugen auch auf den Erwachsenen ein. Anfangs weigerte sich Coling zurückzuschlagen. Er streckte seine Arme aus und hielt den tobenden Jungen möglichst weit