Meine Großmutter heiratet den schelmischen Dieb und schon ein Jahr später kommt Ingrid auf die Welt – meine Mutter. Großvater hat gerade mit dem Studium begonnen, Ingenieur will er werden. Er studiert und arbeitet nebenher, um seine Familie zu ernähren.
„Sonntags saß er immer am Schreibtisch an seinen Zeichnungen für die Universität. Ich wollte aber lieber am Main oder im Park spazieren gehen. Deshalb habe ich mich zu ihm gesetzt und ihm dabei geholfen. So waren wir schneller fertig.“
Doch das Glück der beiden ist nur von kurzer Dauer – dunkle Kriegswolken ziehen auf. Großvater wird zum Kriegsdienst eingezogen und im Sudetenland stationiert.
Frankfurt ist ein beliebtes Ziel für die Bomber der Amerikaner. Der Himmel ist immer grau. Meist geschieht es in der Nacht: Erst hört man ein Surren über den Wolken. Es klingt wie ein angriffslustiger Bienenschwarm. Dann folgt ein Pfeifen. Die Bomben werden abgeworfen. Die Stadt erzittert für einen kurzen Moment. Am nächsten Tag geht das Leben weiter. Immer mehr Stadtteile von Frankfurt liegen in Schutt und Asche.
Am 29. Januar 1944 fliegt die amerikanische Luftwaffe ihren ersten Großangriff auf die Stadt. 500 Flugzeuge bombardieren Frankfurt. Großmutter packt einen Koffer mit dem Nötigsten und sucht mit Ingrid einen Luftschutzkeller auf. Sie haben Glück. Obwohl die Amerikaner die Einschläge auf das gesamte Stadtgebiet verteilen, kommen sie heil davon. Sie können wieder in ihre Wohnung zurück. Noch Tage später hört man Explosionen auf der Straße. Die US-Luftwaffe hatte Bomben mit Langzeitzündern abgeworfen, die erst später ihre tödliche Wirkung entfalten. Wenige Wochen danach setzen die Amerikaner ihre Luftangriffe fort. Sie zielen vor allem auf Kasernenanlagen und Zulieferer für die Rüstungsindustrie. Dann werden die Wasserleitungen bombardiert. Tagelang ist die Stadt ohne Trinkwasser.
Immer wieder müssen Großmutter und Ingrid ihren Koffer packen und in den Luftschutzkeller gehen. Dort sitzen sie mit vielen anderen zusammengekauert auf dem Boden und warten, bis die Sirenen ertönen, die das Ende des Bombardements ankündigten. Jede Nacht wiederholt sich dieser Zustand zwischen Warten, Hoffen, Bangen und Aufatmen. Als der Luftschutzkeller zerstört ist, suchen sie Schutz in einer leerstehenden Wohnung. Dort kommt auch Elke auf die Welt. Eine Nachbarin hilft Großmutter bei der Geburt.
Am 22. März 1944 starten die Amerikaner ihren letzten Luftangriff auf die Stadt. Danach gibt es Frankfurt nicht mehr. 2 000 Flugzeuge bombardieren die Stadt, ein zerstörerischer Dauerregen aus über zwei Millionen Brandbomben und knapp 4 000 Sprengbomben und Luftminen fällt nieder. Auf den Regen folgt das Feuer. Die Bomben lösen einen Feuerorkan aus, der die Stadt in eine Trümmerwüste verwandelt. Der Eiserne Steg, das Wahrzeichen von Frankfurt, ist in zwei Hälften geteilt. Eine Hälfte ragt nach oben, wie ein Finger, der zum Himmel deutet, als wollte er den Weg zu den Zerstörern zeigen, die andere Hälfte ist im Main versunken.
Die Bevölkerung wird evakuiert. 150.000 Menschen sind auf der Flucht. Mit Lastwagen und Zügen bringt man sie aufs Land, nach Usingen und Weilburg, Groß-Gerau, Büdingen, Schlüchtern, Geln-hausen, Wetzlar und Friedberg. Und Großmutter? Großmutter will nicht nach Wetzlar oder Friedberg. Sie hat ein anderes Ziel – sie will ins Sudetenland, zu ihrem Mann. Eine verhängnisvolle Entscheidung, doch das weiß sie in diesem Moment noch nicht. Am Bahnhof im Stadtteil Höchst steigt sie mit ihren Kindern in einen der überfüllten Züge ein. Die Menschen sind eingepfercht wie Vieh. Großmutter mitten unter ihnen, Ingrid an der Hand und Elke, ihr neugeborenes Kind, in eine Wickeldecke gepackt. Es gibt kaum etwas zu essen oder zu trinken. Elke schreit die ganze Zeit vor Hunger. Doch Großmutter hat keine Milch, sie kann sie nicht stillen. In der Nacht plötzlich hört das Kind auf zu schreien. Die Augen blicken starr zu ihr auf. Eine Frau kommt und nimmt ihr das tote Kind aus dem Arm.
Großmutter und Ingrid landen schließlich in dem kleinen Ort Schönhengstgau an der Grenze zwischen Böhmen und Mähren in der ehemaligen Tschechoslowakei. Der Gebirgszug Schönhengst gab dem Ort, der heute längst nicht mehr existiert, seinen Namen. Über 700 Jahre lang war Schönhengstgau eine deutsche Sprachinsel mitten im Sudetenland.
Schönhengst – ein Wort, das ich aus meiner Kindheit kenne. Das mich durch sie begleitet hat wie eine Wolke aus Parfüm. Ich konnte sie nie fassen, sie entglitt mir immer. Schön Hengst. Ich stellte mir einen schönen Hengst vor, es musste ein wunderbarer Ort sein, der nach schönen Pferden benannt ist. Doch warum flüstern Oma und Mama immer so geheimnisvoll? Etwas schwingt mit, das ich nicht verstehe, nicht begreife, aber spüre. „Weißt du noch, damals in Schönhengst?“, sagt Oma zu meiner Mutter, und dann schauen sich beide verschwörerisch an.
Das kleine Dorf Schönhengstgau besteht während des Krieges aus 28 Häusern und zwei Gasthöfen. Die Menschen sind einfache Bauern, aber sie sind freundlich. Sie nehmen die beiden Flüchtlinge aus Frankfurt bei sich auf. Um Geld zu verdienen, trägt Großmutter die Post aus. Meine Mutter lernt in dieser Zeit Skilaufen.
„Die Skier wurden damals direkt an den Hosenbeinen festgeklemmt. Skischuhe gab es noch nicht. Einmal bin ich von der Arbeit nach Hause gekommen, da kam mir Ingrid auf Skiern entgegengesaust“, erinnert sich Großmutter.
Überhaupt war Ingrid ein unerschrockenes Kind. Eines Tages erscheint ein russischer Soldat auf einem Fahrrad im Dorf. Keiner weiß, woher er kommt und was er in dem kleinen Ort will. Er sieht Ingrid, die am Straßenrand spielt. „Komm“, sagt er nur zu ihr, hebt sie auf den Gepäckträger seines Fahrrads und dann verschwindet er mit ihr in Richtung Wald. Die Menschen sind wie gelähmt vor Angst und Schrecken. Was hat der Soldat mit dem Mädchen vor? Doch nach einer halben Stunde bringt der Unbekannte Ingrid unversehrt wieder zurück. Sie jauchzt und ist glücklich über diesen Ausflug mit dem Fahrrad. Ein Mann aus dem Dorf spricht ein wenig Russisch. Der Soldat erzählt ihm lachend, dass ihn Ingrid mit ihren langen schwarzen Zöpfen an seine kleine Schwester zu Hause in Russland erinnert hat. Er wollte ihr mit der Fahrradtour eine Freude machen.
Großmutter und Ingrid erleben trotz Krieg und Vertreibung eine glückliche Zeit im Sudetenland. Ingrid ist eine Meisterin im Organisieren von Essen und anderen Dingen, die sie für das tägliche Leben brauchen. Durch ihre freundliche und unbekümmerte Art ist sie im Dorf beliebt, immer wieder schenken ihr die Bauern etwas. Einmal kommt sie mit einem ganzen Topf dampfend heißer Suppe nach Hause gelaufen.
Meine Mutter wird im Sudetenland auch eingeschult. Gemeinsam mit drei anderen Kindern aus Schönhengst besucht sie die Grundschule in Ketzelsdorf. Jeden Tag müssen die Kinder mehrere Kilometer über die Felder zur Schule laufen. Wenn die Tiefflieger kommen, verstecken sie sich im Wald. Sie warten, bis die Flugzeuge nicht mehr zu sehen sind, dann erst gehen sie weiter. Auf dem Heimweg bringt Ingrid Beeren und Pilze mit, die sie im Wald gesammelt hat. Die Menschen richten sich ein, so gut es geht in diesen Kriegszeiten. Großvater kommt seine kleine Familie oft besuchen. Auch an Weihnachten ist er da und sie feiern zusammen. Es gibt sogar einen kleinen Tannenbaum, den Großmutter im Wald selbst geschlagen hat.
„Wenn er kam, war er immer voller Optimismus. Bald ist es vorbei, beruhigt er mich. Bald sind wir wieder zusammen.“
Doch es kommt anders. Das Grauen beginnt im Februar 1945, wenige Monate vor Kriegsende. Die Sudetendeutschen sind plötzlich die Feinde. Der tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Beneš hetzt die Menschen gegen sie auf. „Ihr Deutschen seid die Verräter unseres Staates“, rufen sie. Der Hass hat sie blind gemacht. Drei Millionen Sudetendeutsche werden aus der Tschechoslowakei vertrieben.
Eines Tages kommen Soldaten ins Dorf und stellen Trecks mit Viehwagen zusammen, um die Leute abzutransportieren. Hastig wird alles, was sie tragen können, zusammengepackt. Einige Sudetendeutsche weigern sich oder versuchen, die Soldaten umzustimmen. Ohne Erfolg. Großmutter und Ingrid verlassen Schönhengst voller Angst vor der Zukunft. Ein großer Zug aus Tausenden von Menschen setzt sich in Bewegung. Alle haben nicht mehr als ein kleines Bündel unter dem Arm. Über viele Jahre haben sie friedlich zusammengelebt, jetzt werden sie von den eigenen Nachbarn verstoßen. Sie sehen in die hassverzerrten Gesichter der Tschechoslowaken, die am Straßenrand stehen und den Abzug der Deutschen beobachten.
So setzt sich der Treck in Richtung Prag in Bewegung, doch niemand kennt das Ziel. Der