Im Gegensatz zu vielen anderen Soul- und Funkgruppen führte der Pfad der Jacksons nicht über die Kirche zum Erfolg. Ganz im Gegenteil. Nach den Talentshows war die nächste Stufe auf dem Jacksons’schen Karrieretreppchen ein Engagement bei Mr Lucky’s, einem Nachtclub in Gary. Der Legende nach war die Gruppe dort bald so populär, dass sie jeden Abend fünf Sets spielte, sechs Mal in der Woche. Die Gage betrug 8 Dollar pro Abend, dazu kamen die Münzen und Banknoten, welche die Gäste einer alten Nachtklub-Tradition folgend auf die Bühne warfen. Manchmal waren Michaels Taschen so voll, dass er vor lauter Gewicht fast die Hosen verloren hätte. Bonbons und andere Süßigkeiten standen zuoberst auf seiner Einkaufsliste. Falls es Joseph gelang, für den arbeitsfreien Abend eine weitere Verpflichtung zu finden, wurde diese selbstverständlich auch wahrgenommen. Unterdessen hatte die Jackson 5 mit dem Schlagzeuger Johnny Porter Jackson (ein Nachbarjunge, der mit Michael & Co. nicht verwandt war) und dem Keyboarder Ronny Rancifer zwei ständige neue Mitglieder gewonnen, welche ihren Sound merklich druckvoller und vielseitiger machten. Im Herbst 1966 war Joseph überzeugt, dass seine Truppe reif sei für die ersten Plattenaufnahmen. Er schickte ein Demo-Tape gleich an die allererste Adresse für schwarzen Pop – Motown Records in Detroit, das selbsternannte „Hitsville USA“. Drei Monate später kamen die Aufnahmen zurück. Motown-Gründer Berry Gordy zeigte kein Interesse. Der Rückschlag war nicht allzu schwer verdaulich, konnten sich die Jacksons doch über Arbeit nicht beklagen. Unterdessen fanden sie in mehreren namhaften Nachtclubs in Chicago Anstellung. Außerdem operierten sie im sogenannten Chitlin’ Circuit. „Chitlin’“ ist die Kurzform der bereits erwähnten Chitterlings. Zum „Chitlin’ Circuit“ gehörte eine Reihe von Clubs und Theatern im Osten und im Süden der USA (darunter das berühmte Apollo Theatre in Harlem, New York, The Victory Grill in Austin, Texas, und The Regal Theatre in Chicago), wo schwarze Künstler und auch ein schwarzes Publikum willkommen waren, was noch in den frühen Sixties besonders in den Südstaaten keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Solche Lokale fassten bis zu zweitausend Zuschauer. Die Chitlin’-Circuit-Shows hatten den großen Vorteil, dass an einem Abend jeweils eine ganze Reihe von Künstlern auftrat, darunter manchmal auch ein großer Name. Drei Mal hintereinander gewannen die Jackson 5 den wöchentlichen Talentwettbewerb im Regal Theatre von Chicago. Die Belohnung für eine solche Leistung bestand darin, im Vorprogramm eines namhaften Stars gegen entsprechende Bezahlung aufzutreten. Die Jackson 5 zogen das große Los mit den seit Kurzem bei Motown unter Vertrag stehenden Gladys Knight and the Pips, die an jenem Abend einen neuen Song ausprobierten, „I Heard it Through the Grapevine“ (im Herbst 1967 erreichte der Titel Rang zwei in den Billboard-Pop-Charts). Nun reiste Joseph Jackson nach New York, um James Brown und Sam & Dave dazu zu bewegen, seine Schützlinge in ihrem Vorprogramm auftreten zu lassen. Beide lehnten die Ehre ab, aber Dave Prater (der Dave von Sam) sorgte dafür, dass die Jackson 5 im Mekka des Soul, dem New Yorker Apollo Theatre, auftreten durften, und zwar beim prestigereichsten Talentwettbewerb überhaupt, dem Superdogs Contest. Das Publikum in Harlem war bekannt für seine kurze Lunte. Wenn ein „Act“ nicht zündete, wurde er ohne falsches Mitleid sehr bald ausgebuht und von der Bühne gejagt. Die Jackson 5 hatten keine solchen Probleme. Am 13. August trugen sie auch hier die Siegestrophäe davon.
In den folgenden Monaten kletterten die Jackson 5 in der Hierarchie der Support-Acts rasch höher. Die Stars, in deren Vorprogramm sie auftreten durften, leuchteten von Tag zu Tag heller. Während die restlichen Jacksons nach ihren Auftritten das aufregende Leben hinter der Bühne genossen, verbrachte Michael jede freie Minute damit, diese Stars bei der Arbeit zu beobachten. Wenn ihm ein Tanzschritt oder eine Pose Eindruck auf ihn machte, ließ er nicht nach, bis er diese selber perfekt einstudiert hatte. Zu den Vorbildern, die er auf diese Weise aus nächster Nähe miterlebte, gehörten die Temptations, The O’Jays und Sam & Dave. Das Gesangsquintett The Temptations kam aus Detroit und war 1961 von Eddie Kendricks und Paul Williams formiert worden. Es stand bei Motown Records unter Vertrag und war jahrelang die erfolgreichste schwarze Gesangsgruppe überhaupt. Mit Wurzeln im Doo-Wop wandelten die „Temps“ ihren Stil immer wieder, um mit der Zeit zu gehen. Der Erfolg gründete einerseits in den Liedern, die der junge Smokey Robinson im Büro von Motown für sie schrieb, andererseits im Kontrast zwischen dem fragilen Tenor von Eddie Kendricks und dem virilen Bariton von David Ruffin. Die Gesangsgruppe The O’Jays stammten aus Canton, Ohio, kam ebenfalls von Gospel und Doo-Wop her und war bekannt für ihre herzensbrecherischen Bühnenauftritte. Ihr Erfolg beschränkte sich auf die R&B-Charts (damals das musikalische Ghetto für jegliche schwarze Musik), ehe sie viel später, 1972, mit „Back Stabbers“ zum Pop-Erfolg fanden. Sam David Moore kam aus Miami, David Prater aus Ocilla, Georgia. Beide lernten ihr Gesangsmetier in der Kirche und waren beim trendsettenden Label Stax Records in Memphis unter Vertrag, wo Isaac Hayes zum Stab der Songschreiber gehörte. Zusammen mit David Porter schrieb ihnen dieser das (lebens-) stildefinierende „Soul Man“ auf den Leib, mit dem sie 1967 die Top 3 der R&B- und der Pop-Charts erreichten. Am meisten habe er von Jackie Wilson gelernt, sagt Michael Jackson. Wilson – wie Joe Jackson ein Ex-Boxer – fiel durch seinen dramatischen und emotionsschwangeren Gesang- und Show-Stil auf. Sein Gesangsstil war vom Rhythm & Blues geprägt und von Little Richard, aber auch von Frank Sinatra und Sammy Davis Junior. Er trug schichtweise Make-up auf und perfektionierte die Kunst, sich mitten im Song auf ein Knie sinken zu lassen, um durch diese Geste der „Aufrichtigkeit“ seiner Worte erst recht Nachdruck zu verleihen. Während seine Platten zwischen abgeschmackt und sublim pendelten, konnte er live den plumpsten Gimmick-Song zum Erlebnis erheben. James Brown persönlich brachte Michael Jackson eines Abends in der Garderobe bei, wie man ein Mikrofon loslassen und wieder auffangen konnte, ehe es auf den Boden krachte. James Brown hatte diverse Spitznamen: „The Hardest Working Man in Show-Business“, „The Minister of the New New Super Heavy Funk“ – und natürlich „The Godfather of Soul“. Geboren 1928 in Barnwell, South Carolina,