Mein Vater war erst fünfundsechzig Jahre alt, aber er sah aus wie achtzig. Seine Haut war schlaff und seine Wangen waren eingefallen. Als wir näher kamen, bemerkte ich, dass er keine Zähne mehr hatte. Damals, als er noch mit John Gotti zugange gewesen war, hatte er sich spezielle Kronen machen lassen, eine dünne Emailleschicht über die Zahnvorderseiten, damit er ein weißeres Lächeln bekäme. Er hatte sie gerade auswechseln lassen wollen, als er ins Gefängnis kam. In der Haft machten ihm seine Zähne andauernd Probleme, bis er schließlich den Gefängniszahnarzt bat, ihm die meisten davon zu ziehen. Ich wusste, dass er sie nicht mehr hatte, dachte aber, er würde seine Prothese tragen. Er hasste die falschen Zähne und scherzte immer, dass sie sich wie ein Klavier im Mund anfühlten.
Ich hätte am liebsten geweint, wollte aber die Kinder nicht verunsichern, also rannte ich auf ihn zu und umarmte ihn. »Schön, dich zu sehen, Papa«, flüsterte ich, während die Tränen über meine Wangen rollten. Ich trat einen Schritt zurück und sah, dass beide Kinder ihn anstarrten. Ich begriff, dass sie keine Ahnung gehabt hatten, was sie erwarten würde. Sie hatten ihren Großvater sieben Jahre lang nicht mehr gesehen, und alles, was ich ihnen hatte zeigen können, waren alte Familienfotos gewesen. Da Nicholas seinen Großvater still bewunderte, hatte er sich aus dem Internet ein altes Foto von ihm auf sein Mobiltelefon heruntergeladen. Doch der hagere, kahle, zahnlose Mann, der jetzt vor ihm stand, hatte mit diesem Bild überhaupt nichts gemein.
Mein Vater versuchte, die Spannung zu lösen, und machte einen Witz: »Euer Großvater sieht aus wie Elmer Fudd.«
Die Kinder wussten nicht, wer Elmer Fudd war, aber ich lachte. Nicholas schien sich mit dem Aussehen seines Großvaters abzufinden, aber Karina wirkte verängstigt. Eigentlich waren den Insassen nur ein schneller Kuss und eine Umarmung gestattet, doch der Wärter sah weg. Mein Vater verteilte ein paar Extra-Küsse und zog meine Tochter scherzhaft an den Haaren. Bald hatte er sie zum Lächeln gebracht.
Der Wärter führte uns zu einem kleinen fensterlosen Raum. Dort gab es einen Fernseher und zwei Automaten mit Snacks und Soft Drinks, da es uns nicht gestattet war, selbst Lebensmittel mitzubringen. »Ich hole was für euch«, sagte mein Vater aufgeregt. Er hatte sein ganzes Taschengeld gespart, um den Kindern Chips und Limonade aus den Automaten zu kaufen.
Mein Vater verbrachte den Vormittag damit, das Neueste über die Kinder und ihr Leben zu erfahren. Ein Wärter besorgte uns ein Uno-Spiel. Wir saßen auf Plastikstühlen beieinander und spielten Karten. Ich fühlte mich fast wieder wie als Kind, wenn wir im Sommer Ferien auf unserer Farm in New Jersey machten.
Dort saßen wir am Esstisch, aßen Chips und spielten Dame oder Karten. Mein Vater spielt sehr gerne und ließ uns solange aufbleiben, wie wir mit ihm Karten spielten. Er war wie ein anderer Mensch. Es war der einzige Ort, an dem er entspannen und er selbst sein konnte.
Auf der Farm merkte man nichts von seinen Mafia-Aktivitäten. Es ging ausschließlich um Urlaub und Spaß. Er lachte und scherzte. Niemals empfand ich den Stress, den ich verspürte, wenn wir zu Hause auf Staten Island waren. Dort war mein Vater immer sehr beschäftigt und hatte kaum Zeit, mit uns zu spielen. An manchen Abenden saß er im Dunkeln allein am Tisch. Dann fragte ich ihn nicht, was los sei. Stattdessen kam ich herein und machte einen Witz. Sobald ich zu sprechen anfing, verhielt er sich ganz normal, als wäre alles in Ordnung. Ich merkte aber trotzdem immer, wenn ihn etwas belastete, dann wurde er ganz still und starrte abwesend ins Leere.
Heute, da ich weiß, was er durchmachte, kann ich bestimmte Ereignisse rückblickend beinahe auf den Tag genau festmachen, etwa, als sein bester Freund Joe »Stymie« d’Angelo in einem Restaurant erschossen wurde, das mein Vater und er zusammen gekauft hatten. An jenem Abend traf ich ihn in Gedanken versunken in der Küche an.
»Vermisst du Stymie?«, fragte ich.
»Ich werde Stymie immer vermissen«, sagte er und räusperte sich. Es war das einzige Mal, dass ich ihn so mitgenommen erlebte.
Mein Vater ist ein sehr gefährlicher Mann. Er kann jemanden töten, ohne mit der Wimper zu zucken. Er blickt nicht auf andere Menschen herab. Aber wenn er das Gefühl hat, dass ihn jemand übervorteilt oder ihn in die Enge treibt, muss man sich in Acht nehmen. Ich wusste es damals nicht, aber an jenem Abend plante er einen Mord. Er wollte sich rächen und überlegte, wie er Stymies Mörder hinrichten könnte, ein Mitglied der Gangsterfamilie Colombo, der eine Angestellte des Restaurants belästigt hatte. Wenn ich so zurückdenke, erinnere ich mich an so manchen Abend, an dem ich meinen Vater nach Mitternacht noch in der Küche sitzend antraf.
»Danke euch, dass ihr so brav wart«, lobte ich die Kinder, als wir an jenem Abend zum Hotel zurückfuhren. Vor dem Abendessen gingen wir alle noch eine Runde im Pool schwimmen. »Was denkt ihr über den Besuch?«, fragte ich, als sie am tiefen Ende des Beckens herumtobten.
»Tante Karen, kann ich dich was fragen?«, sagte Nicholas. »Hat Opa mal jemanden umgebracht?«
Oh mein Gott. Wir hatten noch einen Tag vor uns, und ich wollte nicht, dass die Kinder Angst vor ihrem Großvater hatten. Anlügen wollte ich sie aber auch nicht.
»Ja, das hat er«, sagte ich nüchtern. »Das gehört dazu, wenn man bei der Mafia ist.«
Nicholas bohrte weiter. »Was ist die Mafia?«
Ich versuchte, es ihm zu erklären, so gut es ging. »Was ich als Kind wusste, war, dass es eine Gruppe italienischer Männer war, die nach Amerika gekommen waren. Sie hatten Schwierigkeiten, Arbeit zu finden und so weiter, also schlossen sie sich zusammen und bildeten eine Geheimorganisation, damit sie füreinander sorgen konnten, ganz ähnlich wie eine Familie. Dazu gehörten vermutlich auch Diebstahl und Raub.«
»Warum haben sie dann Menschen getötet?«
Ich wusste nicht, was ich darauf entgegnen sollte. »Warum fragst du nicht Papa Bull, wenn wir ihn morgen besuchen?«
»Ich will nicht, dass er wütend auf mich wird.«
An jenem Abend dachte ich lange über Nicholas und seine Fragen nach. Er erinnerte mich an mich selbst, als ich in seinem Alter war. Er war aus ganz anderen Gründen als meine Tochter an der Geschichte interessiert. Er versuchte sie zu begreifen, wie ich einst auch.
»Na, was haben die Kinder gesagt?«, flüsterte mir mein Vater zu, als ich ihn am Morgen darauf zur Begrüßung umarmte.
»Es war ein netter Besuch für sie«, sagte ich lächelnd.
Mit einem Seitenblick auf meinen Neffen sagte mein Vater: »Du glaubst also, dein Opa ist verrückt?«
»Nein, du bist in Ordnung«, sagte Nicholas und schüttelte ihm die Hand.
»Papa, Nick möchte dir ein paar Fragen stellen.«
Nicholas verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein«, murmelte er.
»Was? Was ist denn, Nick?«
»Nichts.«
»Papa, er will wissen, was ein Gangster ist. Und die Mafia.« Ich forschte im Gesicht meines Vaters nach einer Reaktion, bemerkte jedoch nichts. Ich nahm meinen Neffen beim Arm und führte ihn zu einem der Plastikstühle, die an der Wand standen.
»Weißt du, Nick«, begann mein Vater, »es gibt bestimmte Dinge, auf die ich vielleicht keine Antwort geben kann, aber ich werde mein Bestes versuchen, damit du alles verstehst.«
Es war nicht zu fassen. Es war dasselbe, was er rund siebenundzwanzig Jahre zuvor in der Küche unseres Hauses auf Staten Island zu mir gesagt hatte. In kindgerechten Worten erklärte mein Vater, was die Mafia war und was sie tat. »Die Mafia wurde vor langer Zeit in Italien gegründet. Es war eine Gruppe von Männern, die sich zu einer Bruderschaft zusammenschlossen. Sie schützten ihre Dörfer und ihre Familien. Diese neue Bruderschaft gründete sich auf Vertrauen und Loyalität. Sie taten, was zu ihrem und dem Schutze ihrer Familien nötig war. Diese Bruderschaft nannten sie ›Cosa Nostra‹; das ist Italienisch