„Wie denn?“, unterbrach ihn der Marquis. „Aber du warst doch im Keller!“
„Im Weinkeller? Nein. Warum?“
„Aber weißt du denn nicht ...“ Und Hoensbroech setzte Shansab auseinander, was die Familie am gestrigen Tag so ungemein mitgenommen hatte. Er endete mit der sonderbaren Bemerkung: „Und du bist dir sicher, dass du hier niemanden erschossen und in meinen Weißburgunder gestopft hast?“
„Das kannst du nicht ernst meinen.“
„Hätte doch sein können – damit er aus dem Weg ist, der Tote.“
Im Blick des Afghanen konnte der Graf unschwer erkennen, dass er mit dieser Mutmaßung weit gefehlt hatte. „Aber um Gottes Willen“, hob er noch einmal an, „wer ist dieser Mensch denn gewesen? Da weiß ich mir gar keinen Reim mehr drauf.“
Dem Gast erging es ebenso. Man kam überein, Shansab solle noch ein paar Tage auf dem Schloss der Baronin Ochsenfurth zubringen, bis man eine Gelegenheit gefunden habe, ihn außer Landes zu bringen. Wohin, das versprach der Marquis zu klären. Am besten wäre es natürlich, man könne Nasir alsbald mit seiner eigenen Familie wieder zusammenführen, die inzwischen auf Umwegen von Afghanistan über Zimbabwe nach Kanada gelangt war. – Die kommenden Tage waren einerseits erfüllt von Planungen, wie man dem Freund der Familie eine gefahrlose Passage zum nordamerikanischen Kontinent verschaffen könne; andererseits machten diverse Ermittler ihre Aufwartung, die sich mit der schnöden Tatsache, dass sich ein ermordeter Wildfremder ganz ohne Anlass und Genehmigung in einem Stahltank zu Michelfeld Aufenthalt verschafft hatte, nicht abfinden mochten.
Den Plan umzusetzen, erwies sich als außerordentlich kompliziert. Wohl waren die Hoensbroech’schen Kontakte international verzweigt, doch die Vielzahl an Vorsichtsmaßregeln erforderte absolute Perfektion in Konzept und Durchführung. Kaum war es dem Grafen geglückt, einen sicheren Transport nach Rotterdam und von dort aus nach New York zu organisieren, kam der nächste Anruf. Gehetzt erzählte Nasir Shansab, die Baronin habe verdächtige Gestalten im Schlosshof ausgemacht und er sei schon auf dem Weg nach Michelfeld.
„Tu das nicht!“, wollte ihm Graf Hoensbroech noch durchs Telefon zurufen, da knackte es bereits in der Leitung. In höchster Erregung, unschlüssig, was zu tun sei, verbrachte er eine üble Stunde, als ihn das nächste Klingeln schreckte.
„Rüdiger, ich bin jetzt ganz in deiner Nähe.“
„Na, ein Glück, du hast es ...“
„Nichts hab ich, leider. Ich befinde mich auf einem Hochstand, weißt du ... dieses Ding oberhalb vom ... Augenblick mal ... Verschwindet! Da! Ich knall euch ab! – Entschuldigung ... vom Himmelberg. Kannst du mir irgendwie helfen?“
„Nasir! Ich hole sofort die ...“
„Nein! Nein, nein, nein! Keine Polizei! Ich hab doch keine Aufenthaltsgenehmigung, ich will zu meiner Familie ... und jetzt sind sie da und ... und machen Feuer!“
Weitere Rückfragen blieben ohne Antwort. Stattdessen hörte der Graf Schüsse. Dann knackte es wieder. Aus.
Daoud, einer der Begleiter des Beauftragten, hat schon immer an Geister geglaubt. In der Gebirgsregion, wo er aufwuchs, unterteilte man diese verschiedenartigen akustischen und optischen Erscheinungen, die zum Leben gehörten wie Vögel oder Schlangen, in Sippen. Analog zu den menschlichen Gemeinschaften lebten auch die Geister in Treue zueinander; manche waren ehemalige Menschen, andere existierten als Luftwesen seit unvordenklichen Zeiten. Schon als sehr kleiner Junge lernte Daoud mit diesen gefährlichen Wesenheiten umzugehen. Bekannte kleinere Geister konnten ihm nichts anhaben, die größeren musste man bannen. Dafür war eine Tante zuständig, manchmal die Großmutter. Tauchten aber unbekannte, mächtige Geister auf, hinter Felsnasen, aus Erdspalten oder mitten im Zelt, unangekündigt, unter Gezisch, so half nur die Flucht. Doch selbst wenn diese gelang, war noch lange nicht sicher, ob man wirklich entkommen war. Ein Vetter vierten Grades im Süden des Landes galt als verhext; man merkte ihm nichts an, in keiner Weise. Doch einige im Dorf wussten, dass er nicht weit genug weggelaufen war, als ihm ein mächtiger, fremder Dschin erschien. Deshalb würde er, wenn die Zeit gekommen war, selber zum Geist werden.
Als der weißhaarige Reiter auf Daoud zudonnert, in immer schnellerem Tempo, die Nüstern des Pferds atmen Dampf, Nebel umweht die Gestalt, Dunstschleier schließen die Szene nach allen Seiten ab, da verkrampft sich sein Herz.
„Schieß!“, ruft sein Herr Dschamal, „schieß ihn ab!“
Auch Massud, der Onkel, zetert im Hintergrund. Doch im Gegensatz zu Dschamal zeigt Massud große Furcht.
„Tu was, Daoud, du hast die Waffe!“, kreischt er.
Da entdeckt der zögernde Schütze, dass auch der Geisterreiter bewaffnet ist. Einen Moment lang überlegt er, ob er sich dem Unbekannten zu Füßen werfen soll; aber nein, mit solchem Ingrimm kommt dieses Wesen da herangestürmt, wer wollte da auf Gnade hoffen? Gesträubten Haars lässt Daoud die Waffe fallen und stürmt davon. Nach wenigen Metern bemerkt er, dass jemand neben ihm ist. Seit an Seit mit seinem Onkel sucht Daoud in Panik den Weg in das Wäldchen hinein. – Dschamal schreit, sie sollen stehen bleiben; doch eher würden die Fliehenden versuchen, einen Ölfrachter in voller Fahrt aufzuhalten als dieses rauchende Höllenpferd. Was weiß, Daoud schon von den Geistern des Westens? Nichts weiß er. Nie hat er sich Gedanken darum gemacht, was so weit drüben, hinter dem Kaukasus, vor sich geht. Seitdem der Auftrag des Ältesten an ihn ergangen ist, Dschamal Parhez in dieser grässlichen Stadt mit den Turmhäusern aufzuspüren, ergeht es Daoud sowieso fürchterlich. Wie gerne hätte er in diesem Monat Verlobung gefeiert; stattdessen reist er auf unbequemste Weise, schläft seit Wochen ohne Obdach in der Kälte, jederzeit darauf gefasst, morden zu müssen oder selbst gemordet zu werden, ausgesetzt den Grobheiten dieses gestörten Chaleb, eines Emporkömmlings und Schikanierers, dessen Sadismus selbst vor seinen eigenen Leuten nicht Halt macht. Selbstverständlich bleibt Daoud keine Wahl als mitzumachen, als treuer Vasall; andernfalls verlöre er sein Gesicht. Aber dass es so schrecklich lange dauern würde, das hat ihm keiner gesagt. Und dass es hier so mächtige Geister gibt!
Dschamal Parhez aber hat den Glauben an übernatürliche Erscheinungen längst verloren. Da überwindet er den Schrecken augenblicklich – doch es ist schon zu spät, um die kleine Pistole aus der Jacke zu ziehen. Rasch greift er nach einem der verdorrten Rebstöcke, die auf einem Haufen übereinander liegen: Damit wird er diesen Angreifer aus dem Nichts vom Pferd hauen. Während hinter Dschamal das Feuer unter dem Hochsitz weiter vorankriecht, bereitet er sich auf den Moment des Aufeinanderpralls vor. Aber der junge Mann unterschätzt das Tempo von Ross und Reiter, die mit tobendem Getrappel auf ihn zujagen. Bevor Dschamal zuschlagen kann, sinkt ihm der Knüppel aus der Hand: Ein beißender Schmerz in der Schulter ergreift von seinem Körper Besitz. Sofort spürt er, dass ihm das Blut den Arm hinunterläuft. Mit der anderen Hand fasst er nach der verwundeten Stelle. Dschamal stellt fest, dass der Arm noch dran ist; aber die Schnittwunde blutet heftig.
Indessen Dschamal Parhez mit den Folgen der Attacke beschäftigt ist, springt Rüdiger Reichsgraf zu Hoensbroech vom Pferd und eilt auf den Verletzten zu. Den Degen hält er auf dessen Kehle gerichtet. Selber überrascht vom Erfolg seines Angriffs, steht er auf einmal vor dem