In jenem Frühjahr zogen ihre Eltern wieder nach Boston und ließen Susan und ihren Bruder Bill zurück. Bill blieb zum Studium noch ein paar Jahre in Gainesville, und seine Anwesenheit gab Susan einen Aufschub von einigen Monaten, also bis zum Ende des Sommers. Die Familie hatte das Haus verkauft, also zog Susan zu Judy Lee nach Micanopy, das ungefähr sechzehn Kilometer südlich von Gainesville lag. Um dorthin zu gelangen, musste ich einen Teil der Paynes Prairie überqueren, eines riesigen Gebiets aus Marschland, Feuchtwiesen und offenen Gewässern, das heute ein State Reserve Park und Nationalpark ist. Damals, in den Sechzigern, war es nur irgendein unerschlossenes Sumpfgebiet.
Es gab eine Straße mit dem Namen Savannah Boulevard, die mitten durch das Sumpfgebiet führte. Zu beiden Seiten verliefen tiefe Wasserkanäle. Die schlauen Reptilien – die Frösche, Eidechsen, Schlangen und Alligatoren – krochen jeden Abend hoch auf den Asphalt, um die Wärme aufzusaugen, die von der Hitze des Tages übrig war. Jedes Mal, wenn ich Susan mit Barrys Motorrad besuchte, musste ich ungefähr fünf Kilometer mit den Füßen auf dem Lenker fahren. Falls ich eine Schlange überfuhr, konnte diese so nicht über das Vorderrad an meine Beine gelangen. Ich kam mir vor wie bei einer mittelalterlichen Probe: „Wenn du das bestehst, junger Ritter, kannst du das Herz des schönen Burgfräuleins gewinnen.“
In jenem Sommer spielten wir als Vorgruppe einer Band namens The Cyrkle, die mit dem Paul-Simon-Song „Red Rubber Ball“ einen Nummer-2-Hit gelandet hatte. Sie ergatterte sogar einen der begehrten Plätze im Vorprogramm auf der letzten US-Tournee der Beatles. Ihr Manager fand uns sympathisch und nahm uns mit nach New York, wo wir ein paar Clubkonzerte gaben. Ein paar von den Jungs bekamen jedoch Heimweh, sodass die Sache im Sand verlief. Bernie und ich gingen zurück nach Daytona Beach und schlugen uns mit kleinen Auftritten durch. Wenn sie konnten, gesellten sich Judy und Susan zu uns. Eines Abends hatte ich wegen irgendeines Unsinns einen Riesenstreit mit Susan, und sie stürmte davon. Ich glaube, sie wollte, dass ich ihr mehr Aufmerksamkeit schenkte, doch ich hatte alle Hände voll zu tun, mich zu amüsieren und high zu werden. Als wir unseren Auftritt beendeten, gingen Bernie und ich wie üblich rüber und sahen uns die Allman Joys an, danach rauchten wir ein bisschen Gras.
Ich wusste freilich nicht, dass Susan gemeinsam mit Judy ganz Daytona Beach nach mir abgesucht hatte, um die Angelegenheit wieder zu kitten. Schließlich betraten die beiden das Lokal und sahen uns dort sitzen. Alles, was sie von Duane und Gregg sehen konnten, waren ihre Hinterköpfe und ihr wunderschönes, langes, seidenes Haar. Da sie das Schlimmste vermutete, rannte Susan weinend hinaus.
Wütend marschierte Judy auf uns zu, um uns zur Rede zustellen. „Hey“, schrie sie Bernie an. „Was zum Teufel macht ihr hier mit diesen beiden Mädels?“
Gregg und Duane blickten überrascht zu ihr auf. Als sie ihre Bärte und Schnurrbärte sah, wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatten. Mann, wir lachten, bis uns die Tränen kamen.
Gerade als mit der Band, meiner musikalischen Entwicklung und in meinem Privatleben alles wunderbar lief, ließ Bernie eine Bombe platzen. Er war schon eine ganze Weile lang unzufrieden gewesen, sehnte sich nach größerem Erfolg und kam immer noch nicht mit seiner Familie aus. Wie meine Eltern auch nervten sie ihn oft mit Fragen, was er aus seinem Leben machen wolle, und versuchten, ihn zu einer akademischen Laufbahn zu drängen. Bernie war wütend, dass sie ihm nicht mehr Unterstützung zuteilwerden ließen.
„Musikalisch ist hier nichts los, Mann“, beklagte er sich immer. „New York oder Kalifornien sind angesagt, und ich werde niemals in New York leben. Ich hasse es. Demnächst schmeiße ich den Kram hin, gehe einfach zurück nach Kalifornien und mache richtig Musik.“
Er hatte das schon so oft gesagt, dass ich beinahe dazu übergegangen war, es zu ignorieren. Doch dann verkündete er eines Tages, dass er seine Koffer packen würde.
„Komm mit mir mit, Don“, drängte er mich mit leuchtenden Augen. „In Kalifornien ist das Wetter klasse, die Frauen auch, und dort geht es richtig ab. Dort liegen meine Wurzeln. Wir könnten zusammen eine Band gründen und etwas richtig Anständiges an den Start bringen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Gainesville mag nicht viel zu bieten haben, aber es ist alles, was ich kenne“, sagte ich zu ihm. Die Wahrheit aber war, dass ich Angst hatte, alles hinter mir zu lassen. Auch mir hatte New York nicht gefallen. Im Gegensatz dazu schien Kalifornien allerdings weit entfernt, fremdartig und Furcht einflößend. All die Zeitschriftenartikel und Fernsehsendungen, die ich darüber gelesen und gesehen hatte, ließen darauf schließen, dass es eine sündige Stadt war, wo die Menschen sich „antörnten, in Stimmung brachten und ausstiegen“. Drogenmissbrauch war weitverbreitet, und zwar nicht nur Marihuana. LSD und andere Halluzinogene waren der letzte Schrei, und auch in sexueller Hinsicht lief alles nur Erdenkliche. Trotz allem, was mein Vater über mich dachte, war ich immer noch ein naiver junger Teenager mit eher altmodischen Moralvorstellungen. Ich wusste, dass ich nicht an die Westküste gehörte. Jedenfalls noch nicht jetzt.
Da ich aus armen Verhältnissen stammte, war ich von Haus aus vorsichtig. Ich brauchte Sicherheit, ein todsicheres Schema, nach dem ich Geld verdienen und die Miete bezahlen konnte. Ohne feste Jobangebote und sonstige greifbare Möglichkeiten einfach ins Unbekannte aufzubrechen erschien mir beängstigend. Bernie kannte in Los Angeles im Grunde niemanden und verfügte auch nur noch über sehr wenige Kontakte in der dortigen Musikszene. In meinen schlimmsten Albträumen malte ich mir aus, wie er sich mit Drogendealern und Zuhältern einließ und nie wieder Banjo spielte. Er hingegen wollte sein Glück jedenfalls versuchen, und es gab nichts, was ich hätte sagen können, um ihn noch umzustimmen.
An seinem Abreisetag ging ich hinüber zum Haus seiner Eltern und half ihm, sein Auto zu beladen.
„Ich wünschte, du würdest mitkommen, Kumpel“, sagte er und umarmte mich.
„Ich weiß“, sagte ich, den Tränen unangenehm nahe.
Er grinste breit und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. „Ich ruf dich an, sobald ich mich eingelebt habe. Wenn alles gut läuft, kannst du ja nachkommen, und wir können zusammen etwas machen, oder?“
„Klar“, log ich. „Sobald du dich eingelebt hast.“
Er setzte sich auf den Fahrersitz seines Ford Falcon und drehte den Zündschlüssel um. Mit einer dicken blauen Abgaswolke aus dem Auspuff erwachte der Motor zum Leben. Das Auto war bis unters Dach mit Instrumenten, Kleidung und Equipment bepackt. Nur der Beifahrersitz war frei. Bernie ging tatsächlich fort. Er fuhr nach Kalifornien, um seinen musikalischen Traum zu verwirklichen. Als ich ihm nachwinkte und zusah, wie sein Auto auf der staubigen Straße in Richtung Westen verschwand, musste ich all meine Kraft zusammennehmen, um ihm nicht hinterherzurennen und auf diesen freien Sitz zu hüpfen.
FÜNF
Der Sommer endete, und mit ihm mein Traum – Susan musste nach Bos-ton zurückkehren. Wir waren immer noch unsterblich ineinander verliebt, aber ein Teil von ihr sehnte sich danach, wieder nach Hause zu kommen. Sie vermisste das nördliche Wetter, die tausend Farben des Herbsts und die langen, kalten Winter. Außerdem hatte sie sich an einem angesehenen College für Mädchen eingeschrieben und freute sich schon auf die nächste Phase ihrer akademischen Laufbahn. So betrachtet, hätten wir unterschiedlicher nicht sein können.
Als sie die Stadt verließ, saß sie vorn im Auto ihres Bruders Bill. Ich dachte, ich müsste sterben, so sehr schmerzte es. In einem Zeitraum von wenigen Monaten hatte ich meine erste große Liebe und meinen besten Freund verloren und darüber hinaus den Kontakt zu meinen Eltern vollständig abgebrochen. Ich konnte es kaum fassen, dass mir so viel Unheil auf einmal widerfuhr.
Ich war nur selten aus Florida rausgekommen – abgesehen